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Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen: Migranten in Sorge

30. August 2024

Die AfD könnte bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen stärkste Kraft werden. Für viele Migrantinnen und Migranten ein Albtraum – doch nicht für alle.

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"Der Osten macht's - Sommer, Sonne, Remigration" - Wahlplakat der AfD in Altenburg in Thüringen
Wahlplakat der AfD in Altenburg in ThüringenBild: dts-Agentur/dpa/picture alliance

Neulich in der Bahn war es mal wieder soweit. Bei der Kontrolle der Fahrscheine ließ sich die Schaffnerin von allen Reisenden das Zugticket zeigen, nur Nour Al Zoubi sollte sich als Einzige im Abteil noch zusätzlich ausweisen. Sonst, drohte die Schaffnerin, würde sie sofort die Polizei rufen. Situationen wie diese sind für die gebürtige Syrerin, die als Referentin beim Flüchtlingsrat Thüringen arbeitet, längst Normalität. "Es gibt diesen Alltagsrassismus", sagt sie im Gespräch mit der Deutschen Welle. "Aber nach sechs Jahren in Gera bin ich daran gewohnt und weiß damit größtenteils umzugehen."

Wegziehen kommt für Al Zoubi nicht infrage, selbst wenn die vom Verfassungsschutz als erwiesen rechtsextrem eingestufte Partei Alternative für Deutschland (AfD) in Thüringen die Landtagswahl gewinnen sollte. Thüringen sei ihre Heimat, erklärt die Sozialarbeiterin, die 2020 den Integrationspreis der 95.000-Einwohner-Stadt Gera für ein Zeitungsprojekt mit Geflüchteten erhielt. Nach dem Vorfall im Zug sprachen ihr zwei ältere Frauen Mut zu – vielleicht auch deshalb fühlt sie sich bestärkt, zu bleiben.

"Die Zahl der AfD-Wähler ist gestiegen, aber genauso auch die Zahl der Deutschen, die sich für eine Willkommenskultur einsetzen." Sie kenne aber auch Menschen, die mit dem Gedanken spielten, bei einem Wahlsieg der AfD Thüringen zu verlassen. "Aber nicht alle Migranten und Migrantinnen in Thüringen haben die Möglichkeit dazu. Geflüchtete, Asylbewerber und Asylbewerberinnen sind wegen der Beschränkung der Wohnsitzauflage ja dazu verpflichtet, drei Jahren in Thüringen zu bleiben."

Junge Frau mit Kopftuch schaut in die Kamera
"Man bekommt heute mehr Solidarität als vor ein paar Jahren und fühlt sich nicht alleingelassen" - Nour Al ZoubiBild: Privat

Dort ist der Ton gegenüber Migranten und Migrantinnen seit längerem zunehmend schärfer und der Messer-Anschlag von Solingen mit drei Toten dürfte die Stimmung noch weiter anheizen.

Für Al Zoubi heißt es Vorsicht, wenn wie im Dezember 2023 der Thüringer AfD-Landeschef Björn Höcke sein Publikum in Gera Nazi-Parolen grölen lässt.   Oder wenn sich jeden Montag in der Kleinstadt ein Protestzug durch die Straßen schlängelt, der gegen Migration wettert. Was ist ihre größte Sorge bei einem deutlichen Rechtsruck am Wahltag? 

"Wir werden dann noch mehr Rassismus im öffentlichen Raum erleben", sagt sie. "Auf einem höheren Niveau. Dass es dann nicht nur bei Schimpfworten bleibt, sondern auch körperliche Gewalt dazukommt, davor habe ich Angst. Vor allem wenn man hört, was gerade in Großbritannien in Southport passiert ist."

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Die Angst vieler Migranten vor einem AfD-Wahlsieg

Al Zoubi ist mit ihren Befürchtungen nicht allein. 150 Kilometer weiter östlich macht sich Ismail Davul in Dresden ähnliche Gedanken. In der Türkei geboren, kam er 2006 für das Studium nach Sachsen und arbeitet seit knapp elf Jahren beim Ausländerrat der Stadt. Davul kümmert sich vor allem um junge Migrantinnen und Migranten, hat aber auch bei Elterntreffen stets ein Ohr für ihre Sorgen.

"Da haben mich schon einige gefragt, in welche Richtung geht das hier gerade in Sachsen? Was bedeutet das, wenn die AfD gewinnt? Wird sich unsere Lebenssituation dann ändern? Die Stimmung ist klar: Die Menschen haben tatsächlich alle Angst." 

Mann mit Drei-Tage-Bart und Brille lächelt in die Kamera
"Das, was die AFD vorangetrieben hat, ist mittlerweile in der Gesellschaft salonfähig geworden" - Ismail DavulBild: privat

Auch Davul hört oft von Überlegungen, bei einem Sieg der AfD bei der Landtagswahl in Sachsen aus Dresden wegzuziehen. Er und sein Team versuchen dann, die Menschen zu beruhigen: Dass die demokratischen Parteien im Stadtrat gegen den Rechtsruck kämpfen würden, dass sich die Situation nicht von heute auf morgen ändere und immer noch der Ausländerrat und viele zivilgesellschaftliche Organisationen vor Ort seien. "Doch leider gehört es auch zur traurigen Realität in unserer Stadt, dass die Behörde immer häufiger von Attacken gegen Migrantinnen und Migranten erfährt", berichtet der Sozialarbeiter gegenüber der Deutschen Welle. 

"In der Vergangenheit waren das sehr seltene Einzelfälle, wenn ein Migrant mal angegriffen wurde. Damals gab es auch eine viel größere mediale Aufmerksamkeit. Inzwischen erreichen uns Rückmeldungen, dass jeden Tag irgendein Migrant oder eine Migrantin angegriffen, angepöbelt oder angespuckt wird. Aufgrund des Aussehens, der Hautfarbe oder des Akzents. Auf der Straße ist dies leider heute fast selbstverständlich."

Die Partei, die gegen Migranten Stimmung macht, wirbt gleichzeitig um diese

Während viele Migrantinnen und Migranten in großer Sorge angesichts eines Wahlsieges der AfD in Thüringen und Sachsen sind, gibt es andere, die fest vorhaben, ihr Kreuzchen bei der Rechtsaußen-Partei zu machen. Der Partei also, die immer wieder gegen Geflüchtete hetzt und den Begriff der "Remigration" salonfähig gemacht hat. Wie passt das zusammen? Vor allem türkischstämmige Erdogan-Wähler und Russlanddeutsche habe die AfD für sich entdeckt, sagt Özgür Özvatan, politischer Soziologe an der Humboldt-Universität Berlin, im Gespräch mit der DW. "Die Botschaft ist zunächst einmal, die Menschen bei ihrem Nationalstolz zu greifen und dass es grundsätzlich gar nicht verkehrt ist, diesen zu besitzen. Ein Pro-Erdogan-Video zum Beispiel holt die Türkeistämmigen emotional ab. Und für die Russlanddeutschen gibt es das Narrativ, dass sie ihre Sprache aufgeben mussten, dass von ihnen abverlangt wurde, so schnell wie möglich richtig deutsch zu sprechen, dass sie hier immer noch unsichtbar sind und dass sie vor 30 Jahren alles aufgeben mussten."

Junger Mann mit Drei-Tage-Bart blickt in die Kamera
"Migrantische Communities wählen nicht weniger die AfD als nicht-migrantische Menschen" - Özgür ÖzvatanBild: Frederic Kern/Geisler/picture alliance

Die Erzählung der AfD an migrantische Wähler lautet also: Ihr musstet Euch damals alles hart erarbeiten, den neuen Geflüchteten wird dagegen alles geschenkt. Dies halte zwar keinem Faktencheck stand, erklärt Özvatan, bediene aber gefühlte Wahrheiten. Insbesondere in den sozialen Medien wie TikTok wirbt die AfD massiv um die Stimmen junger Migrantinnen und Migranten, mit viel Geld und auch mit Hilfe migrantischer Influencer. Die Rechnung sei einfach: Nur mit den Stimmen von Menschen mit Migrationsgeschichte könne sie zur Volkspartei aufzusteigen, so der Politikwissenschaftler.

"Die AfD hat gelernt, auf den neuen Social Media-Plattformen zielgruppenspezifisch zu kommunizieren. Und sie hat sehr gut verstanden, dass der Empfehlungs-Algorithmus es zulässt, fast schon konträre Positionen gleichzeitig in diese Social Media-Welt zu streuen. Vor allen Dingen gibt es für antidemokratische Parteien einen strukturellen Wettbewerbsvorteil: Verkürzte und falsche Inhalte haben ein höheres Virulenzpotenzial."

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Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur