"Europa in großen Teilen ein Elitenprojekt"
8. Oktober 2018Deutsche Welle: Herr Lambertz, Sie halten am Dienstag ihre Rede zur Lage der Union, und die scheint relativ schlecht zu sein. Zum Beispiel ist Rechtspopulismus auf dem Vormarsch. Was ist denn eigentlich schiefgegangen in der Europäischen Union?
Karl-Heinz Lambertz: Europa ist und bleibt eine der größten Errungenschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und man müsste eigentlich jetzt in einer Hochphase europäischer Begeisterung leben. Aber das tun wir nicht. Und was ist da schiefgegangen? Ich glaube zweierlei. Erstens, Europa hat eine Reihe dringender Probleme nicht in den Griff bekommen. Unter anderem auch weil es nicht gut genug aufgestellt ist. Wir leben noch viel zu sehr in der Zeit der Einstimmigkeit, die wir mal mit sechs oder zwölf Mitgliedern praktizieren konnten aber die man mit 28 nicht mehr hinkriegt. Und zweitens haben wir auch in vielen Bereichen erlebt, dass der Bezug zu den Bürgerinnen und Bürgern nicht so zustande gekommen ist, wie es eigentlich sein müsste.
Sie meinen, dass ist der Grund für den ansteigenden Rechtspopulismus?
Das ist einer der Gründe dafür. Europa war und ist auch in großen Teilen zu sehr ein Elitenprojekt, das nicht genügend bei den Menschen ankommt, weil man zu sehr in der Blase in Brüssel, Straßburg und Luxemburg denkt. In die Regionen gehen, in die Gebietskörperschaften gehen, das ist die einzige Art und Weise, vor Ort mit den Menschen darüber zu diskutieren, wie man die Zukunft Europas gestalten kann und was für sie so wichtig daran ist. Und den letzten entscheidenden Beschluss zur Zukunft Europas, den fällen die Bürgerinnen und Bürger für sich.
Aber wie soll das gehen? Der französische Präsident Macron zum Beispiel versucht es ja, er tourt durch Frankreich und sucht den Bürgerdialog. Merkel versuchte es auch, aber es verfängt nicht. Was machen sie falsch?
Es gibt zurzeit so eine Art Inflation an Bürgerdialogen. Es wird sehr viel gemacht. Aber es müsste vielleicht noch mal grundsätzlich darüber nachgedacht werden, was man tut. Ich glaube, dass eine wichtige Dimension beim Bürgerdialog ist, dass man auch wirklich zuhört und nicht nur eine Botschaft verkündet. Wenn die Menschen, die im Bürgerdialog waren, nichts mehr zurückbekommen, wenn es kein Feedback gibt, dann ist das Ganze ein Schuss nach hinten.
Sie haben gesagt, die EU sei ein Elitenprojekt. Sind Macron, Bundeskanzlerin Merkel, Kommissionsspräsident Juncker Teil dieser Elite? Hören sie noch, was die Menschen in den Regionen wirklich bewegt?
Ich glaube schon, dass man nicht blind wird, wenn man an der Spitze einer Bundesregierung oder der EU-Kommission steht. Aber das ganze System ist so aufgebaut, dass die Situation vor Ort nicht genügend in den Mittelpunkt gestellt wird. Ich habe sehr oft erlebt, dass sehr kluge Beamte der EU-Kommission einer Runde von Bürgermeistern, die gestandene Politiker sind, erklären, wie man so eine Stadt richtig zu verwalten habe. Die kriegen dann so einen Hals, wenn sie das hören, und da muss man eben anders mit umgehen. Europa hat eine Detailverliebtheit, um nicht zu sagen Detailversessenheit manchmal, die völlig kontraproduktiv ist. Europa muss sich wirklich auf die Dinge beschränken, wo man europäische Lösungen braucht. Der Handlungsspielraum für die nationalen und regionalen Themen muss größer werden.
Eine der Hauptsorgen der Menschen scheint zu sein, wenn es um Migration geht, dass sie ihre Identität aufgeben. Kann die EU da überhaupt Abhilfe schaffen? Es scheint ja eher die Tendenz zu sein in vielen Ländern, dass es zurück zum Nationalismus geht und eine europäische Identität nicht erkennbar ist.
Europäische Identität ist nichts, was Bestehendes ersetzt. Europäische Identität heißt, in dem Bestehenden auf regionaler und nationaler Ebene das zu finden, was wir gemeinsam haben und womit wir unseren Kontinent, der einer der kleinsten auf der Welt ist und auch noch derjenige mit der höchsten Dichte an Staatsgrenzen, tüchtig für die Zukunft machen. Vielfalt ist ein Reichtum - wenn er nicht ins Chaos gestürzt wird oder wenn er nicht missbraucht wird, um Feindschaften zu entwickeln, um die Menschen aufeinander zu hetzen und dann Angst zu schüren und weiter zu verbreiten.
Wenn sie ihre größte Sorge in eine Forderung umwandeln müssten, was wäre das?
Ich glaube man muss die Europapolitik näher an das Geschehen in den Gebietskörperschaften bringen. Für mich ist der Bürgermeister oder der Ministerpräsident genauso ein wichtiger Europapolitiker wie der Europaabgeordnete oder der Kommissionspräsident. Das muss verbessert werden. Andererseits müssen wir auch eine Reihe Probleme lösen, die auf dem Tisch liegen. Ein großes Problem, das Europa nicht genügend mit vorangebracht hat, ist das soziale Problem. Der soziale Pfeiler der Europapolitik hinkt hinterher.
Der Europäische Ausschuss der Regionen ist die Versammlung der Regional- und Kommunalvertreter der Europäischen Union. Karl-Heinz Lambertz ist seit 2017 Präsident des beratenden Ausschusses. Zuvor war der Sozialdemokrat 15 Jahre lang Ministerpräsident der deutschsprachigen Gemeinschaft im Osten Belgiens.
Das Interview führte Max Hofmann.