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Léon Blum: Beschwörung der Schatten

Ramón García-Ziemsen5. Januar 2006

Die Dreyfus-Affäre führte Frankreich 1898 an den Rand eines Bürgerkriegs. Aus der Mitte des Orkans stammen diese Erinnerungen eines großartigen Zeitzeugen: der jüdische Sozialist Léon Blum.

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Man war für Dreyfus oder gegen ihn, schreibt Léon Blum. Alles andere zählte nicht mehr. Während zweier endloser Jahre "schien das Leben innezuhalten" - alles konzentrierte sich auf diese eine Frage. Alle waren sie beteiligt, all die großen Intellektuellen des Landes, André Gide oder Anatole France und natürlich Emile Zola.

Buchcover: Léon Blum - Beschwörung der Schatten

Dessen "J´accuse" - "Ich klage an" war ein Höhepunkt der Affäre, denn Zola tat das, was Blum tat: Er klagte den Militarismus an, den reaktionären Nationalismus. Frankreich stand am Scheideweg und niemand konnte sich einer Position entziehen - es war wie ein Sturm, der jeden erfasste, während Dreyfus auf seiner Insel Tausende Kilometer entfernt saß und von nichts wusste. Und mitten drin in diesem Sturm, der Frankreich zu einem gespaltenen Land werden ließ, er, Léon Blum, ein junger Anwalt, der später das Land regieren sollte.

Instrumentalisierter Antisemitismus

Aus meiner Schulzeit, meinem Geschichtsunterricht, in dem es viel zu oft um Fakten und viel zu selten um Verstehen ging, kannte ich noch die Rahmendaten, das Zahlengerüst dessen, was sich damals in Frankreich abgespielt hatte: Da waren die Aufrechten, die gegen eine ungerechte Verurteilung kämpften und die Rückwärtsgewandten und Antisemiten, die die Schuld einem Juden in die Schuhe schieben wollten. Ein paar langweilige Unterrichtssunden von vielen - nicht mehr.

Und dann kommt Jahre später dieser Text, der eine kaum zu beschreibende Wucht hat, eine Erinnerungsbombe, die ihre Kraft dadurch erhält, dass Blum sich selbst in den Mittelpunkt stellt. Blum schildert uns seine intellektuelle und politische Initiation. Wie er in den Kreis der Dreyfus-Anhänger gerät, wie sicher man sich ist, das Lügengebäude der Dreyfus-Verurteiler zu Fall bringen zu können. Er beschreibt die geheimen Treffen, die versteckten Diskussionszirkel, die Versuche weitere Gleichgesinnte zu finden. Und dann beschreibt er, wie irritiert er und seine Freunde sind als sie merken, dass das Ressentiment, das Vorurteil größere Kraft haben kann als die Wahrheit. Monarchisten und Militärs, eingeschworene Antisemiten halten an der Schuld des Alfred Dreyfus fest. Sie gehen sogar in die Offensive, der Antisemitismus, der auch in der französischen Gesellschaft verwurzelt war, wird instrumentalisiert - eine jüdische Verschwörung wird erfunden.

Emile Zola
Emile Zola (1840-1902)Bild: dpa

Geschichte wird begreifbar

Ein eskalierender Kulturkampf, den Blum Schritt für Schritt nachzeichnet. Die Dreyfus-Affäre: ein Funken, der ein Pulverfass in die Luft jagt. Das zu lesen ist spannend, weil es Blum doch auch um die Entwicklung eines so seltenen Typus geht - des politisch engagierten Intellektuellen. Ja, in dieser Zeit hat es ihn gegeben den politischen Intellektuellen: ein Buch voller Helden des Geistes, die in die Verbannung müssen, weil sie sich für Dreyfus einsetzen, die alles riskieren, weil sie sich eine Meinung leisten. Ein Grund, warum Blums Zeilen eine ungeheure Aktualität haben. Politik und Geist hatten noch etwas miteinander zu tun - Blum selbst war ein schreibender Politiker. Später wurde er selbst Opfer des Antisemitismus: Die mit dem Deutschen Reich kollaborierende Vichy-Regierung lieferte ihn 1940 an die Nazis aus. Er überlebt die KZs Dachau und Buchenwald.

Léon Blum hat bereits eine eindrucksvolle Karriere hinter sich, als er seine persönliche Dreyfus-Affäre 1935 zu Papier bringt. Er könnte altersweise Sätze formulieren, ganz Staatsmann, ganz der über den Dingen stehende Beobachter. Aber das tut er nicht. Er schreibt einen Krimi. Einen Polit-Thriller, der aufwühlt, der mitreißend ist mit jedem Wort.

Der kleine Berenberg-Verlag zeigt, wie man zu Zahlen und Daten komprimierte menschliche Erfahrung durch den Text eines unmittelbar Betroffenen wieder zum Leben erwecken kann. Wie Geschichte begreifbar wird, wenn sie der Wissenschaftlichkeit entrissen wird, wenn das Subjekt in den Mittelpunkt rückt. Ein kostbarer Text, einer, der für sich spricht. Ein Text, den ich schon damals gerne gelesen hätte. Damals im Geschichtsunterricht.

Léon Blum
Beschwörung der Schatten
Berenberg, 2005
ISBN 3-937834-07-9

EUR 19,00