1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
KonflikteUkraine

Kann eine teilweise besetzte Ukraine NATO-Mitglied werden?

Teri Schultz
19. November 2023

Ein ehemaliger NATO-Generalsekretär spricht sich dafür aus, die Ukraine in das Militärbündnis aufzunehmen, während Teile ihres Territoriums russisch besetzt sind. Offizielle Unterstützung für diesen Plan gibt es nicht.

https://p.dw.com/p/4Z2K3
Stoltenberg in Kiew
Ob und wann die Ukraine mit Russland verhandelt, ist Sache der Ukraine, sagt NATO-Generalsekretär Jens StoltenbergBild: Ukrainian Presidential Press Office/AP Photo/picture alliance

Seit 2008 schon verspricht die NATO der Ukraine, sie könne eines Tages Mitglied der Verteidigungsallianz werden. Wiederholt, doch bislang erfolglos, hat sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj darum bemüht, von dem Bündnis eine neuerliche, erweiterte Zusage zu erhalten, dass sein Land nach Ende des Krieges aufgenommen wird.

Nun hat sich der ehemalige NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen, der seit bald einem Jahrzehnt als Berater für ukrainische Politiker in Lohn und Brot steht, mit einem öffentlichen Vorschlag zu Wort gemeldet, der bei vielen Beobachtern Kopfschütteln auslöst.

Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht, doch Rasmussen ist der Meinung, die Allianz solle der Ukraine eine Mitgliedschaft anbieten, die die Krim, den Donbass und andere, durch Russland völkerrechtswidrig annektierte Gebiete ausschließt. Eine kollektive Sicherheitsgarantie nach NATO-Artikel 5 würde Russlands Präsident Wladimir Putin von dem Versuch abhalten, weitere Gebiete einzunehmen, argumentiert Rasmussen.

Kritik aus NATO-Ländern

Doch selbst unter den führenden Köpfen, die sich für einen raschen Beitritt der Ukraine zur NATO stark machen, finden sich einige, die Rasmussens Vorschlag für inakzeptabel halten. Der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis, der mit Putin noch nicht einmal über die Option eines Waffenstillstands sprechen will, bezeichnete den Vorschlag als "beschämend".

"Jede Verhandlung bereitet den Weg zu einer Siegesfeier in Moskau", sagte er auf einem Treffen der EU-Außenminister am Montag. "Gebietsabtretungen sind mit dem Völkerrecht unvereinbar. Die territoriale Integrität muss unantastbar bleiben." Kopfschüttelnd fuhr Landsbergis fort: "Etwas aufgeben, um etwas zu erhalten - so sollte es nicht funktionieren."

Wenig Unterstützung aus Kiew

Der ukrainische Abgeordnete Andrij Osadtschuk bestätigte der DW in Kiew, dass eine solche Lösung für die Ukraine nicht in Frage komme: "Jede Waffenruhe, jedes Einfrieren des Konflikts, jeder Kompromiss mit dem Bösen wird Russland lediglich Zeit geben, sich neu zu bewaffnen", sagt er und stellt infrage, ob die NATO überhaupt die Mitgliedschaft eines Landes erwägen würde, das nicht in der Lage ist, seine Hoheitsrechte über sein gesamtes Staatsgebiet auszuüben.

Osadtschuk ist zudem überzeugt, Russland würde sich nicht mit den heute annektierten Gebieten abfinden: "Sie glauben noch immer, dass sie sich die gesamte Ukraine einverleiben können, langsam, wie eine große Schlange", sagt er und fügt sarkastisch hinzu: "Allein die mangelnde Bereitschaft des Westens, zu kämpfen - nicht für die Ukraine, sondern für den Westen - veranlasst all diese Experten, solch wundervolle Ideen zu formulieren, die mit der Realität nichts zu tun haben."

Ist der Versuchsballon geplatzt?

Nicht zum ersten Mal macht diese Idee die Runde. Im August legte Stian Jenssen, Büroleiter des amtierenden NATO-Generalsekretärs General Jens Stoltenberg, auf einer Konferenz in Norwegen als mögliche Lösung nahe, dass die Ukraine Teile ihres Staatsgebiets im Tausch gegen eine NATO-Mitgliedschaft aufgeben könnte.

Als dieser ursprünglich auf Norwegisch geäußerte Vorschlag die internationale Presse erreichte, führte das in Kiew und bei einigen seiner Unterstützer umgehend zu einem Aufschrei. Innerhalb von 24 Stunden musste Stoltenberg erneut versichern, dass die NATO die Ukraine bei der Wiederherstellung ihrer territorialen Integrität unterstützt. Jenssen musste zurückrudern: Er habe sich falsch ausgedrückt.

Gehört die Krim noch zur Ukraine?

Für Edward Hunter Christie, Analyst und ehemals Militärökonom bei der NATO, ist dies nur ein Beispiel für die ernsthaften Fehler, die in Bezug auf die Ukraine gemacht werden. Nicht nur in Worten, sondern auch in Taten. "Es klafft eine Lücke zwischen offiziellen Stellungnahmen, in denen ein ideales Ergebnis beschworen wird - also mit einer Ukraine, die ihr gesamtes Hoheitsgebiet zurückerobert - und dem tatsächlichen Umfang der Unterstützung, insbesondere militärischer Unterstützung, die die Bündnispartner zu leisten bereit sind", betont Hunter.

"Es ist ziemlich außergewöhnlich und offen gesagt bizarr, dass wir auf diplomatischer Seite erklären, die Krim gehöre zur Ukraine und die Ukraine habe ein Recht, sämtliche Gebiete zurückzuerobern, während wir auf der anderen Seite der Ukraine die Lieferung von Waffen mit größerer Reichweite verweigern. Sie benötigen das gesamte Instrumentarium, damit sie eine echte Chance haben, die Fakten vor Ort zu beeinflussen. Erst dann können wir sehen, wohin die Diplomatie führen kann."

Erst die Panzer, dann die Gespräche

Bruno Lete vom German Marshall Fund wundert sich ebenfalls darüber, warum Rasmussen meint, Sicherheitsgarantien könnten für die Ukraine geeignet sein: "Wie verhindert man, dass Russland die Ukraine angreift, wenn sie Teil des Bündnisses ist? Heißt das, die NATO sendet Truppen? Heißt das, wir müssen uns über eine multinationale Kampfgruppe für die Ukraine Gedanken machen, ähnlich der Kampfverbände, die sich in den baltischen Staaten befinden?"

Wie Hunter Christie ist Lete der Meinung, dass der Weg zum Frieden über die militärische Überlegenheit Kiews verläuft. "Nur dann ist die Ukraine in der Lage, ein Abkommen auszuhandeln, bei dem sie nicht völlig benachteiligt wird", unterstreicht er.

Auch wenn der Vorschlag von jemandem außerhalb der NATO stammt, lässt sich nach Letes Überzeugung nicht abstreiten: Solche Optionen werden innerhalb der Allianz diskutiert. "Ich denke, auch die NATO steht immer stärker unter Druck, ihr Versprechen von 2008 wahrzumachen, dass die Ukraine eines Tages Mitglied der NATO wird." Doch der von Rasmussen vorgeschlagene Weg wäre "kein Sieg für Kiew und kein Sieg für den Westen", fügt er hinzu.

Hunter Christie weist darauf hin, die NATO habe der Ukraine zugesichert, sie bei der Wiederherstellung ihres gesamten Territoriums zu unterstützen. "Strategisch, militärisch, rechtlich - und für den internationalen Ruf und das Ansehen des Bündnisses - müssen wir das auch vollständig umsetzen", betont er. Doch die Anzeichen mehren sich, dass die Unterstützung für den Kampf der Ukraine schwindet.

 Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.