Kundus: Chronologie
10. Februar 20104. September 2009
Ein von Bundeswehroberst Georg Klein angefordertes US-Flugzeug bombardiert am frühen Morgen zwei von den Taliban entführte Tanklastzüge in einem Fluss bei Kundus. Dabei stirbt offensichtlich eine größere Anzahl von Menschen. Als gegen Mittag deutsche Soldaten am Ort des Geschehens eintreffen, sind alle Leichen bereits weggebracht worden.
5. September 2009
Bundesverteidigungsminister Franz-Josef Jung verteidigt die Angriffe. Die Tanklaster hätten für Anschläge verwendet werden können. Jung spricht von etwa 50 getöteten Aufständischen, jedoch nicht von zivilen Opfern. Dagegen räumt der Oberbefehlshaber der NATO-Truppen in Afghanistan, General Stanley McChrystal, zivile Opfer ein.
6. September 2009
Die "Washington Post", deren Reporter mit einem NATO-Untersuchungsteam vor Ort waren, berichtet über etwa 125 Getötete, darunter mindestens zwei Dutzend Zivilisten. Die Zeitung wirft dem Bundeswehroberst schwere Fehler bei der Einschätzung der Lage vor. Internationale Kritik wird laut, unter anderen von den Außenministern Schwedens und Frankreichs und dem spanischen Ministerpräsidenten Zapatero.
7. September 2009
Afghanistans Präsident Karsai erklärt, er frage sich, warum nicht Bodentruppen eingesetzt worden seien, um eine so hohe Zahl von Opfern zu vermeiden.
10. September 2009
Die national zuständige Generalstaatsanwaltschaft in Dresden setzt Sonderermittler zur Überprüfung des Militäreinsatzes der Bundeswehr ein.
11. September 2009
Der Generalinspekteur der Bundeswehr, Wolfgang Schneiderhan erklärt, er gehe davon aus, dass die Entscheidung zum Bombardement "das Resultat einer ganz sorgfältigen Beurteilung der Lage ist".
13. September 2009
Eine afghanische Untersuchungskommission bezeichnet den Angriff als Fehler und meldet den Tod von 30 Zivilisten und 69 Taliban bei dem Angriff.
14. September 2009
Die Bundesregierung bleibt dabei: Der Schlag sei aus militärischer Sicht notwendig gewesen, erklärt ein Sprecher des Verteidigungsministeriums.
15. September 2009
Der damalige Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier verbittet sich Kritik der Alliierten, solange die internationalen Untersuchungen der NATO und der Vereinten Nationen nicht abgeschlossen seien.
18. September 2009
Aus NATO-Kreisen sickert durch, der deutsche Oberst habe fälschlicherweise behauptet, deutsche Soldaten seien im Zielgebiet in direktem Feindkontakt und damit sei der Bombenangriff legitim. In Wirklichkeit habe es keine Bundeswehrsoldaten in der Nähe gegeben.
Anfang Oktober 2009
Bundeswehroberst Klein, der den Einsatzbefehl gegeben hatte, beendet turnusgemäß seinen Einsatz in Afghanistan.
29. Oktober 2009
Fast sieben Wochen nach dem Zwischenfall trifft der geheime NATO-Untersuchungsbericht in Berlin ein. Laut Bundeswehr-Generalinspekteur Schneiderhan bestätigt er nicht, dass durch den Luftschlag unbeteiligte Personen getötet wurden. Es gebe außerdem keinen Grund, daran zu zweifeln, dass die deutschen Soldaten angemessen gehandelt hätten. Der neue Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg hält allerdings personelle Konsequenzen aus dem NATO-Untersuchungsbericht für möglich.
1. November 2009
Das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" schreibt unter Berufung auf den NATO-Bericht, Oberst Klein habe sich nicht an die Einsatzregeln gehalten. Es habe in der Nähe der Tankwagen keine deutschen Soldaten mit Feindberührung gegeben. Klein habe es außerdem abgelehnt, die Jagdbomber zunächst als Warnung im Tiefflug über die gekaperten Tankwagen hinwegfliegen zu lassen. Die Aufklärung sei der Lage ungenügend gewesen.
3. November 2009
Die Opposition, die von der Regierung Einsicht in den NATO-Bericht erhalten hat, kritisiert, dass "eine akute Gefahrensituation konstruiert wurde, die so nicht vorhanden war". Ungeachtet der Fürsorge für die Soldaten dürfe "aus falsch nicht richtig gemacht werden".
6. November 2009
Die Dresdner Staatsanwaltschaft gibt die Untersuchung der möglichen strafrechtlichen Folgen des Luftangriffs an die Bundesanwaltschaft ab, weil in Afghanistan ein "bewaffneter Konflikt" herrsche, der nach dem Völkerstrafrecht zu beurteilen sei.
6. November 2009
Verteidigungsminister Guttenberg hält den Luftschlag für "militärisch angemessen", räumt aber Verfahrenfehler durch Ausbildungsmängel und verwirrende Einsatzregeln ein.
17. November 2009
Vier Bremer Anwälte fordern vom Bundesverteidigungsministerium in einem Brief Entschädigung für die zivilen Opfer des Bombardements. Sie vertreten 78 Hinterbliebene.
25. November 2009
Guttenberg fragt Generalinspekteur Schneiderhan und Verteidigungs-Staatssekretär Peter Wichert nach weiteren Berichten. Die nachträgliche Darstellung unterscheidet sich: Laut Guttenberg verschweigen ihm beide einen Bericht der Feldjäger, der früh von zivilen Opfern spricht, und weitere Informationen; nach Angaben aus dem Umfeld der beiden Spitzenbeamten haben diese korrekt informiert.
26. November 2009
Die "Bild"-Zeitung berichtet, das Bundesverteidigungsministerium habe diesen geheimen Bericht gegenüber der ermittelnden Staatsanwaltschaft zurückgehalten. So habe es bereits am Abend des 4. September unter anderem Hinweise auf verletzte Kinder gegeben. Außerdem seien schwere Versäumnisse bei der Aufklärung dokumentiert.
Bundesverteidigungsminister Guttenberg entlässt den Generalinspekteur der Bundeswehr. Die Opposition kündigt die Einsetzung eines Bundestags-Untersuchungsausschusses an.
27. November 2009
Regierungssprecher Ulrich Wilhelm kündigt den Rücktritt des ehemaligen Verteidigungsministers Franz Josef Jung an.
2. Dezember 2009
Vertreter aller Fraktionen beschließen, den Militäranschlag zu untersuchen. Der Verteidigungsausschuss selbst wird zum Untersuchungsausschuss.
3. Dezember 2009
Guttenberg vollzieht eine Kehrtwende im Bundestag. Er bezeichnet das Bombardement nun als "militärisch nicht angemessen". Neue Dokumente hätten ihn zur Korrektur seiner Meinung veranlasst.
6. Dezember 2009
Die Bundeswehr soll nach "Spiegel"-Informationen ursprünglich sechs Bombenabwürfe angefordert haben. Die Besatzung der US-Kampfjets habe aber widersprochen, berichtet das Magazin unter Berufung auf Auszüge aus dem NATO-Abschlussbericht. Es seien nur zwei Bomben nötig.
7. Dezember 2009
Die Bundesregierung will Angehörige von zivilen Opfern möglichst schnell entschädigen.
9. Dezember 2009
Das Magazin "Stern" berichtet, das Internationale Rote Kreuz (ICRC) habe Guttenberg bereits am 6. November schriftlich darüber informiert, dass es viele zivile Opfer gegeben habe.
10. Dezember 2009
Die Bundeswehr-Elite-Einheit KSK (Kommando Spezialkräfte) war nach einem Bericht der "Bild"-Zeitung maßgeblich an der Koordinierung des Luftangriffs beteiligt.
11. Dezember 2009
Guttenberg reist nach Afghanistan und versichert den Soldaten den Rückhalt der Heimat. Laut "Spiegel" und "Süddeutscher Zeitung" legen Details aus dem geheimen NATO-Bericht nahe, dass mit dem Bombardement gezielt die um die Laster versammelten Taliban- Kommandeure getötet werden sollten. An einer Stelle heiße es im Bericht, die Bundeswehr wolle "die Menschen angreifen, nicht die Fahrzeuge". Laut "Leipziger Volkszeitung" soll das Kanzleramt vor dem Angriff ein schärferes Vorgehen der Bundeswehr gebilligt haben.
14. Dezember 2009
Guttenberg rückt explizit von der bisher in der Öffentlichkeit vertretenen Linie der Bundesregierung und seines Ressorts ab, dass vorrangig die beiden mit Treibstoff gefüllten Tanklaster zerstört werden sollten. Aus der Opposition werden Forderungen laut, Guttenberg solle zurücktreten.
16. Dezember 2009
Der Untersuchungsausschuss nimmt seine Arbeit auf. Er soll die näheren Umstände des Luftangriffs zu klären. Das Bundesverteidigungsministerium räumt ein, einen Bericht erst mit fünftägiger Verzögerung an das Kanzleramt weitergeleitet zu haben. Die Regierung bestreitet Vorwürfe, es habe einen Strategiewechsel gegeben, der das gezielte Töten Verdächtiger erlaube.
17. Dezember 2009
Der entlassene Generalinspekteur der Bundeswehr, Wolfgang Schneiderhan, hat laut einem Bericht des Magazins "Stern" doch Informationen gegenüber Guttenberg zurückgehalten. Schneiderhan räumte dies in seinem Rücktrittsgesuch ein.
18. Dezember 2009
Guttenberg ernennt den Heeres-General Volker Wieker zum neuen Generalinspekteur der Bundeswehr.
21. Dezember 2009
Nach Medienberichten hat ein Vertreter des Auswärtigen Amtes bereits kurz nach dem Bombardement Hinweise auf zivile Opfer erhalten. Der damalige Bundesaußenminister Steinmeier erklärt, er habe zu keinem Zeitpunkt ausgeschlossen, dass es auch zivile Opfer gab. Sein Ministerium habe jedoch keine eigenen Erkenntnisse über den Luftangriff gehabt.
22. Dezember 2009
Guttenberg lässt angesichts der Informationspannen nach einem möglichen Leck in seinem Ministerium suchen.
29. Dezember 2009
Die Deutsche Welthungerhilfe lehnt die Forderung von Entwicklungsminister Dirk Niebel ab, in Afghanistan stärker mit der Bundeswehr zusammen zu arbeiten. Die Welthungerhilfe dürfe kein militärisches Instrument werden, sagte der Generalsekretär der Welthungerhilfe, Wolfgang Jamann.
17. Januar 2010
Bundeswehrsoldaten erschießen in Kundus einen afghanischen Zivilisten, ein weiterer soll dabei verletzt worden sein. Die Bundeswehr bestätigt den Vorfall, erklärt jedoch, dass es sich um Aufständische gehandelt habe, die mit ihrem Fahrzeug auf einen Kontrollpunkt zugerast seien und sich durch Warnschüsse nicht hätten aufhalten lassen. Am selben Tag ereignet sich ein ähnlicher Zwischenfall in der südlichen Provinz Helmand, dort erschießen Bundeswehrsoldaten ebenfalls einen Zivilisten, der auch ungebremst auf einen Konvoi zuraste.
21. Januar 2010
Der Untersuchungsausschuss des Bundestages zur Aufklärung des Luftangriffes in Kundus nimmt seine Arbeit auf. SPD, Linke und Grüne wollen Karl-Theodor zu Guttenberg noch vor der Landtagswahl in Nordrheinwestfalen im kommenden Mai befragen.
28. Januar 2010
Bei einer Afghanistan-Konferenz in London beschließt die internationale Gemeinschaft, ihr ziviles und militärisches Engagement zu verstärken und eine massive Aufstockung der zivilen Wiederaufbauhilfe zu leisten. Afghanistan selber will mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit übernehmen, das Land wird jedoch für Jahre auf ausländische Truppen angewiesen sein.
30. Januar 2010
Bei einem NATO-Luftangriff in der afghanischen Provinz Wardak werden vier einheimische Soldaten getötet und sieben weitere verletzt. Afghanische und ausländische Truppen geraten in der Nähe eines neuerrichteten Stützpunktes aus bisher ungeklärten Gründen in ein Gefecht. Die NATO bezeichnet dies als einen bedauerlichen Zwischenfall und kündigt Untersuchungen an.
05. Februar 2010
Die Münchener Sicherheitskonferenz beginnt unter schärfsten Sicherheitsvorkehrungen.
Ein Thema ist unter anderem eine neue NATO-Strategie für Afghanistan.
09. Februar 2010
Das Bundeskabinett beschließt ein neues Afghanistan-Mandat, 850 weitere Soldaten könnten nun an den Hindukusch entsandt werden. Somit würde die Mandatsobergrenze auf 5350 Soldaten steigen, der Bundestag muss der Mandatsänderung noch zustimmen. Für die Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte sollen künftig 1400 statt 280 Soldaten eingesetzt werden. Zudem soll die Wiederaufbauhilfe mit 430 Millionen Euro fast verdoppelt werden. Mit dem neuen Konzept setzt die schwarz-gelbe Koalition Beschlüsse der Londoner Afghanistan-Konferenz um.
Autoren: Bernd Gräßler/Brigitta Moll/Susanna Hayne (dpa)
Redaktion: Kay-Alexander Scholz/Dеnnis Stutе/Julia Elvers-Guyot