Europas Kulturhauptstädte: Endlich geht es wieder los
Novi Sad, Esch und Kaunas tragen 2022 den Titel Europäische Kulturhauptstadt. Eine "betrunkene Uhr", eine 5000-jährige Stadtgeschichte und der Geburtsort einer ganz besonderen Frau - die Städte haben viel zu bieten.
Novi Sad - das serbische Athen
Novi Sad ist bunt, laut und vielfältig. In der zweitgrößten Stadt Serbiens leben Serben, Ungarn, Slowaken, Kroaten, Rumänen, Montenegriner, Roma und andere Ethnien. Das kulturelle Leben pulsiert. Im 19. Jahrhundert war Novi Sad das Zentrum der serbischen Kultur und wichtiges Handels- und Produktionszentrum. Deswegen erhielt es den Spitznamen "Serbisches Athen".
Die betrunkene Uhr
Vor dieser Uhr steht man etwas länger, bis man weiß, wie spät es ist: Denn der kleine Zeiger zeigt die Minuten und der große die Stunden - also umgekehrt, weswegen sie auch die "Betrunkene Uhr" genannt wird. Als Geschenk der Erzherzogin und Königin von Österreich Maria Theresia verwirrt sie seit Mitte des 18. Jahrhunderts (um 1750) die Besucher der Hügelfestung Petrovaradin.
Petrovaradin
Die Festung Petrovaradin thront auf dem Hügel über der Donau und zählt zu den wichtigsten historischen Kulturstätten Serbiens. Sie gehört zu den größten und am besten erhaltenen Festungen Europas. Einzigartig sind die unterirdischen Gänge mit einer Länge von 16 Kilometern. Seit dem Jahr 2001 findet in der Festung jedes Jahr im Juli eines der größten Musikfestivals Südosteuropas, das EXIT, statt.
Berühmte Tochter der Stadt Novi Sad: Mileva Marić
Eine der berühmtesten Töchter der Stadt ist Mileva Marić. Sie war die erste Serbin und eine der ersten Frauen weltweit, die ein Mathematik- und Physikstudium absolvierte. 1903 heiratete sie ihren Studienkommilitonen Albert Einstein - gegen den Willen seiner Mutter. Elf Jahre später zerbrach die Ehe. Um ihren Anteil an der Ausarbeitung der Relativitätstheorie ranken sich bis heute viele Mythen.
Esch - Industrie trifft Landidyll ...
Und das schon seit vielen Jahrzehnten. Esch ist die zweitgrößte Stadt des Großherzogtums Luxemburg. Sie teilt sich den Titel mit 18 weiteren Gemeinden, darunter acht französischen. Das kleine Luxemburg liegt zwischen Frankreich, Belgien und Deutschland und ist von großer europäischer Bedeutung: Hier wurde 1985 das Schengener Abkommen beschlossen, dass Grenzkontrollen in Teilen Europas aufhob.
... und Geschichte trifft Moderne
Am 12. April 1128 wurde Esch erstmals unter dem Namen "Asch" in einer Schrift von Papst Honorius II. erwähnt. Im 19. Jahrhundert erlebte die Freie Stadt einen ungeheuren Aufschwung, dank der Gewinnung von Eisenerz. Nach der Stilllegung der Hochöfen musste sich die Stadt neu erfinden. Heute befindet sich die Universität auf dem ehemaligen Industriegelände.
Industriearchitektur in der Universität
Der Campus Belval der 2003 gegründeten Universität von Luxemburg bezieht die industrielle Architektur der Stadt Esch mit ein - wie hier in der Universitätsbibliothek. Rund 6700 Studierende werden in vier Sprachen unterrichtet: Englisch, Deutsch, Französisch und Luxemburgisch. Heute leben in Esch Menschen mit über 120 verschiedenen Nationalitäten - und das bei nur 36.000 Einwohnern
Kaunas: Malerisches Kulturjahr an der Memel
Kaunas, die zweitgrößte Stadt Litauens, startet am 22. Januar ins Kulturjahr: mit rund 40 Festivals, über 60 Ausstellungen und über 250 Events, darunter auch "The International Day of Happiness" im März. Die Stadt wird dabei zur Bühne vieler internationaler Stars wie Marina Abramovic, Philip Miller, William Kentridge, Yoko Ono, Jenny Kagan und Robert Wilson.
Die jüdische Geschichte der Stadt wird aufgearbeitet
Kuratorin Daiva Citvarienė gibt als Teil des Kulturjahres das Buch "The Jews of Kaunas" heraus (deutsch: "Die Juden von Kaunas"). Auch öffentliche Wandgemälde machen die jüdischen Einwohner und Einwohnerinnen der Stadt sichtbar, die im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen im örtlichen Ghetto, das später zum Konzentrationslager ausgebaut wurde, ermordet wurden.
Ehrgeiziges Programm: eine neue Geschichte erfinden
In Kaunas möchte man durch das Kulturjahr wieder zu seiner multikulturellen, multiethnischen Vergangenheit zurückfinden, so die Veranstalter, statt als "litauischste aller litauischen Städte" bekannt zu bleiben. Dafür erschaffen Bürger und Institutionen in Kaunas ein neues Fabelwesen, wie Nessi in Schottland: Das "Biest von Kaunas" soll ein gemeinsamer Mythos werden, der die Stadt vereint.
Ausblick auf 2023: Timișoara - "Klein-Wien"
Auch auf 2023 darf man sich freuen: Da werden das rumänische Timișoara, das ungarische Veszprém und das griechische Elefsina Kulturhauptstadt. Während Novi Sad sich mit dem Spitznamen "Serbisches Athen" schmückt, ist Timișoara als "Klein-Wien" bekannt. Die Stadt im Westen Rumäniens war Teil der K.u.K.-Monarchie, die zahlreichen frisch renovierten Altbauten erinnern noch an jene historische Epoche.
1989: Ein Ort der Erinnerung
Die Revolution gegen das kommunistische Regime Ende der 1980er hatte ihren Ursprung in eben dieser Stadt. In Timișoara wurden zahlreiche Demonstrationen organisiert, die oft blutig endeten. Auf dem Platz der Oper wurden mehrere Demonstranten erschossen, darunter Kinder und Jugendliche. Kurzerhand breiteten sich die Proteste aus - und führten zum Niedergang des kommunistischen Regimes in Rumänien.
Kathedrale der Heiligen drei Hierarchen
Eines der Wahrzeichen der Stadt ist die Kathedrale der Heiligen drei Hierarchen. Für eine orthodoxe Kirche wurde sie etwas untypisch gebaut - mit Türmen statt der typischen Kuppeln. Doch nicht nur das war ungewöhnlich - für den Bau mussten 1000 Betonpfeiler in die sumpfige Erde gerammt werden. Seit 1940 steht sie da und lockt viele Touristen an.
Timișoara - großer Innovationsgeist
Am 12. November 1884 kam Licht in die dunklen Straßen der Stadt. Timișoara gehörte damit zu den ersten Städten Europas mit elektrischer Straßenbeleuchtung. In vielerlei Hinsicht sticht die Stadt im Vergleich zum Rest Rumäniens heraus - die Wirtschaft boomt, die Arbeitslosigkeit ist geringer als im Rest des Landes, viele internationale Unternehmen haben sich hier niedergelassen, vor allem deutsche.
Elefsina - Mythen und Rituale
Die dritte Stadt, die 2021 den Titel europäische Kulturhauptstadt tragen sollte, ist das griechische Elefsina. Benannt wurde sie nach den Mysterien von Eleusis für die Gottheiten Demeter und Persephone. Die Mysterien waren spezielle Riten, an denen nur ausgewählte Personen teilnehmen durften. Damit war Eleusis, das heutige Elefsina, eine der bedeutendsten religiösen Stätten der Antike.
Industriehafen ohne Industrie
Der alte Industriehafen ist eine der Besonderheiten der Stadt. Seit vielen Jahren wird er jedoch nicht mehr für Industriezwecke, sondern als Schiffsfriedhof genutzt. Etwa 30 Schiffe und Boote rosten seit Jahrzehnten hier vor sich hin. Im vergangenen Jahr hat die Stadt damit begonnen, die Wracks zu bergen und zu entsorgen - als Vorbereitung auf das wichtige Kulturjahr.
Zwischen antiker Atmosphäre und tristem Industrieflair
Elefsina wurde hart von der Finanz-und Wirtschaftskrise in Griechenland getroffen, Fabriken mussten schließen, die Arbeitslosenquote ist hoch, doch nun soll die Stadt im neuen Glanz erstrahlen. Gartenanlagen werden gepflegt, Gebäude renoviert - die Stadt möchte sich zum Auftakt des Kulturjahres hip und modern präsentieren. Elefsina wird 2023 Kulturhauptstadt.
Veszprém: die "Stadt der Königinnen"
Das ungarische Städtchen Veszprém wird ebenfalls 2023 zur Europäischen Kulturhauptstadt. 75 Minuten von der Hauptstadt Budapest entfernt, liegt sie nördlich des Balaton-Sees. Jahrhundertelang krönte der Bischof von Veszprém die ungarischen Königinnen. Deshalb brüstet die Stadt sich noch immer mit dem Titel "Stadt der Königinnen".
Vorfreude auf ein musikalisches Kulturjahr 2023
2019 wurde Veszprém zur UNESCO-Stadt der Musik. Hier finden das Street Music Festival, das VeszprémFest und das Auer Violin Festival statt. Ziel im Kulturjahr sei es, so die Stadt, öffentliche Orte zu schaffen, an denen gemeinsam musiziert werden könne, sowie Bewohner und Gäste dazu zu ermutigen, selbst ein Instrument zu lernen. 2023 verspricht also jetzt schon, ein kulturreiches Jahr zu werden.
Aufgrund der Corona-Pandemie wurde das Kulturjahr zuletzt vom Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat verschoben: Eigentlich sollten das serbische Novi Sad, das luxemburgische Esch und das litauische Kaunaus schon 2021 europäische Kulturhauptstadt werden.
Nun geht es aber wieder los: 2022 tragen alle drei endlich den begehrten Titel.