Kroatiens unsichtbare Migranten
8. Dezember 2024Kroatien ist der erste EU-Mitgliedsstaat am nordwestlichen Ende der Balkanroute. Migrierende, die über die Nachbarländer Bosnien und Herzegowina oder Serbien in den Westen und Norden Europas wollen, müssen das Land durchqueren, das seit Januar 2023 auch Mitglied im Schengen-Raum ist.
"Insgesamt wurden in den ersten zehn Monaten dieses Jahres (2024) 26.534 illegale Grenzübertritte registriert", erklärt die Pressestelle des kroatischen Innenministeriums der DW. Die meisten Migranten seien Bürger Afghanistans, Syriens, der Türkei, der Russischen Föderation und Ägyptens.
Doch während im Westen Bosniens, im Südosten Österreichs oder im Norden Italiens Flüchtlinge zum Straßenbild gehören, sieht man in Kroatien zwar immer mehr "Gastarbeiter" - aber Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten wie Afghanistan oder Syrien kaum. Dass sich trotzdem viele Flüchtende in Kroatien aufhalten bzw. das Land durchqueren, belegen Fotos ihrer Hinterlassenschaften in den Gebirgen an den Grenzen zu Italien und Österreich, die Wanderer und Bergsteiger aufgenommen haben.
"Die Kleidung, Schuhe, Rucksäcke, Dokumente, Fotos, Brillen, Kinderwagen und Windeln, die die Bergsteiger finden, sind kein Müll, sondern Spuren der Brutalität des europäischen Grenzregimes in Kroatien", erklärt die NGO "Gradovi utocista" (Städte der Zuflucht) in einer Stellungnahme für die DW. "Solange migrierende Menschen gezwungen sind, sich zu verstecken, werden sie diese Spuren auf Bergen, Nebenstraßen oder in Wäldern hinterlassen", so das informelle Netzwerk. Gradovi utocista verbindet lokale Initiativen, Aktivistinnen und Aktivisten in Kroatien, die Migrantinnen und Migranten vor Ort helfen.
"Die Sichtbarkeit von Migranten und ihre Kontakte mit der lokalen Bevölkerung stehen und fallen mit dem Grad ihrer Kriminalisierung und Illegalisierung", erklärt Izvor Rukavina, Aktivist bei Gradovi utocista und Soziologe an der Universität der kroatischen Hauptstadt Zagreb. "In Italien und Bosnien können Migrierende sich leichter in der Öffentlichkeit zeigen, ohne ihre Weiterreise zu gefährden. In Kroatien und Slowenien ist das Risiko von Inhaftierung und Pushbacks viel größer, insbesondere wenn sie mit Medien sprechen."
"Sieben-Tage-Papiere": Grundlage für künftige mögliche Rückübernahmen
Das war nicht immer so. Bis zum Beitritt Kroatiens zum Schengen-Raum stellten die Behörden Flüchtlingen "Sieben-Tage-Papiere" aus, mit denen sie das Land binnen einer Woche durchqueren durften. Dieses Dokument und die darin enthaltenen personenbezogenen Daten sind Grundlage für künftige mögliche Abschiebungen und Rückübernahmen aus anderen EU-Ländern.
"Damals wurde zum Beispiel in Rijeka ein humanitärer Versorgungspunkt eingerichtet, wo täglich mehr als hundert Menschen mit Erfrischungen und Grundnahrungsmitteln versorgt wurden, bevor sie weiterzogen", berichtet Rukavina. Anfang 2024 sei das Projekt beendet worden, da keine Flüchtlinge mehr in der Stadt ankamen. "Aber es durchqueren weiterhin zahlreiche Migranten Kroatien, so dass wir nun von unsichtbarer Migration sprechen."
Zwischen Pushbacks und Ertrinken
Wenn Flüchtlinge heute in den kroatischen Medien auftauchen, dann im Rahmen von Beiträgen über Festnahmen von Schleppern bei Polizeikontrollen oder Unfällen von Transportern, bei denen Migrierende verletzt - und bei dieser Gelegenheit entdeckt wurden. Aber diese Berichte kommen nicht von der Grenze, sondern von Straßen, die EU-Länder Italien, Slowenien und Österreich mit dem Grenzgebiet zu Bosnien und Serbien verbinden.
Von dort kommen seit Jahren Berichte über brutale, nach EU-Recht eigentlich illegale Pushbacks an Kroatiens Grenze zu Bosnien. Die kroatische Grenzpolizei setzt dort unter anderem Drohnen ein, um Flüchtlinge zu finden, die versuchen, die EU-Außengrenze zu überwinden. Zuvor mussten die Menschen das noch immer von Minen aus dem Krieg 1992-95 verseuchte Bosnien durchqueren. Minen sind nur eine der Gefahren, die den Migranten drohen. Hilfsorganisationen wie SOS Balkanroute aus Österreich berichten, dass immer mehr unbekannte Tote aus den Flüssen entlang der Grenzen Bosniens und Serbiens zu Kroatien geborgen werden.
96,4 Prozent ziehen weiter
"Nur 3,6 Prozent der Personen, die ihre Absicht bekundet haben, internationalen Schutz in der Republik Kroatien zu beantragen, stellen einen förmlichen Antrag", erklärt das Innenministerium in Zagreb der DW. "Wir haben keine Informationen darüber, in welches Land diese Menschen gegangen sind." Als Flüchtlinge anerkannt sind derzeit ganze 1012 Personen, darunter drei Palästinenser und 23 russische Staatsbürger.
Vorübergehenden Schutz genießen zudem knapp 25.000 Ukrainerinnen und Ukrainer, die vor Russlands Angriffskrieg nach Kroatien geflohen sind. Sie alle haben laut Innenministerium Anrecht auf "Unterbringung im Aufnahmezentrum, Verpflegung und Kleidung in Form von Sachleistungen, Erstattung der Kosten für öffentliche Verkehrsmittel zum Zwecke der Gewährung internationalen Schutzes und eine finanzielle Unterstützung, die sich derzeit auf 20 Euro pro Monat beläuft."
16.000 Rücknahmeersuche aus Deutschland
In Zukunft könnte sich die Anzahl derer, die diese Unterstützung in Anspruch nehmen müssen, drastisch erhöhen. Der kroatische Dienst der DW meldete Ende November 2024, dass Deutschland 16.000 Migranten nach Kroatien zurückführen möchte. "Die Bundesrepublik will das Tempo bei der Abschiebung von Personen erhöhen, die keinen Anspruch auf Schutz haben", so der Bericht von DW Kroatisch.
Derartige Rücknahmeersuche innerhalb der Europäischen Union sind in den "Dublin-Regeln" vorgesehen: Zuständig für einen bestimmten Asylbewerber ist nach der Verordnung Dublin-III derjenige EU-Mitgliedsstaat, in dem diese Person erstmals in die EU eingereist ist - bzw. dort, wo sie erstmals registriert wurde.
Im Jahr 2023 wollte die Bundesrepublik 74.622 Asylbewerberinnen und Asylbewerber in andere EU-Staaten zurückführen. Die meisten Anträge auf eine Rücknahme gingen dabei an Italien (15.749) und Kroatien (16.704). Während die italienischen Behörden Rückführungen grundsätzlich ablehnen, zeigten sich die kroatischen deutlich kooperativer.
Laut Kroatiens Innenminister Davor Bozinovic hat Deutschland 2024 allerdings lediglich 1519 Rückführungen in sein Land angekündigt, von denen nur 401 tatsächlich durchgeführt worden seien. "Wir haben mit der deutschen Seite bis Ende des Jahres eine Vereinbarung über die Rückkehr von weiteren 182 Personen", so Bozinovic auf einer Pressekonferenz in Zagreb am 27. November 2024.