Mehr als ein Fußballspiel
17. November 2019Vielleicht war es sogar gut, dass das EM-Qualifikationsspiel zwischen dem Kosovo und England in Pristina sportlich nicht mehr von Bedeutung war. Seit der Niederlage des Kosovo in Tschechien am Donnerstag stand fest, dass dem jüngsten Mitglied der UEFA auch ein Sieg gegen die "Three Lions" nicht mehr für die direkte Qualifikation zur EURO 2020 reichen würde - aber darum ging es an diesem Abend in Pristina auch gar nicht. Vielmehr sollte die Partie, das abschließende Qualifikationsspiel in Gruppe A, das letztlich mit einem 4:0-Erfolg für England endete, zu einer Art Feierstunde einer besonderen Beziehung werden - und das wurde es auch. Tausende Fans im Stadion von Pristina hielten schon zu Beginn der Partie englische Fahnen in die Höhe. Sie feierten die englischen Spieler und das Land, aus dem sie kommen.
Zuvor hatte sich die Hauptstadt des Kosovo tagelang auf die Gäste aus England gefreut. "Welcome broo" war auf auf einem riesigen Poster im Schaufenster eines Geschäfts im Zentrum Pristinas zu lesen. Darauf das Bild des dunkelhäutigen englischen Stürmers Raheem Sterling. An vielen Stellen überspannten Banner mit dem Slogan "Welcome & Respect" die Straße, verziert mit den Fahnen des Kosovo und Englands sowie dem "Poppy", der roten Mohnblüte, mit der die Briten ihre Unterstützung für die Armee und die Erinnerung an gefallene Soldaten ausdrücken.
"Wir tun dies aus Anerkennung für unsere Freunde, die uns bei der Gründung unseres eigenen Staates sehr geholfen haben", erklärt Agim Ademi, der Präsident des kosovarischen Fußballverbands KFF, die Aktion am Tag vor dem England-Spiel gegenüber der DW. "England und sein damaliger Premierminister Tony Blair haben dabei eine Schlüsselrolle gespielt."
Unvergessene Helfer
Tatsächlich waren die britischen KFOR-Truppen - insgesamt rund 19.000 Soldaten - nach dem Kosovo-Krieg in Pristina sehr präsent. Sie patrouillierten durch die Stadt und sorgten für Sicherheit. Ein berühmtes Foto aus dem Jahr 1999 zeigt einen britischen Soldaten, der seine Patrouille unterbricht, um mit kosovarischen Kindern Fußball zu spielen. Hinzu kommt, dass England für viele Kriegsflüchtlinge einen sicheren Zufluchtsort bildete. Aktionen, die im Kosovo nicht vergessen sind.
Ein zweiter, aktuellerer Grund für die England-freundlichen Banner, sagt Ademi, seien die rassistischen Beleidigungen gewesen, die Englands Nationalteam bei früheren Spielen in Osteuropa, zum Beispiel in Bulgarien, entgegen geschleudert wurden. "Wir wissen, wie es sich anfühlt, diskriminiert zu werden. Wir haben es schließlich selbst lange genug am eigenen Leib erlebt. Aber viele unserer Landsleute waren im Ausland und haben andere Kulturen und Religionen kennengelernt", so Ademi. "Daher: Albaner sind keine Rassisten!"
"Was für ein freundlicher Ort"
Dass die so offen zur Schau gestellte England-Liebe nicht nur eine von oberster Verbandsebene initiierte Werbeaktion ist, sondern auch von der Bevölkerung gelebt wird, zeigt am Tag vor dem Spiel ein Rundgang durch Pristina. Dort sind Simon und Les unterwegs, Fans aus England, die so gut wie alle Auswärtsfahrten mitmachen und ihr Team auch in den Kosovo begleitet haben. Sie sind begeistert von der Gastfreundschaft der Kosovaren: "Was für ein freundlicher Ort. Alle waren wirklich gut zu uns", sagt Les, und Simon bestätigt: "Die Leute wollen mit dir reden. Sie danken dir, dass du in ihr Land gekommen bist. Da ist sehr ungewöhnlich. Ich hätte so etwas nicht erwartet."
Die beiden haben sich eines der Welcome-Banner besorgt. Sie breiten es aus und sind fast ein wenig ergriffen: "Das ist das Beste, was je jemand für uns als Gastmannschaft getan hat", sagt Les. "Es bedeutet uns eine Menge."
"Wir haben hier keinen Rassismus, wir bekämpfen nur böse Menschen", bestätigt auch Adnan Zeneli, der als Straßenhändler Trikots des kosovarischen Nationalteams verkauft. "Wir sind positive Menschen, und wir haben nichts mit Rassismus zu tun." Etwas zurückhaltender kommentieren die Studentinnen Miellma und Trina die Lage: "Ich denke, wir gehen auf Nummer sicher", sagt Trina. "Da wir ein junges Land sind, ist es gut, mit Antidiskriminierung und nicht mit Hassreden zu beginnen. Ich denke, es ist eine gute Sache, die wir gemeinsam machen." Ihre Freundin Miellma ergänzt: "Wir wollen keinen schlechten Eindruck hinterlassen, weil wir neu im Fußball sind. Es wäre nicht sehr hilfreich, wenn es zu rassistischen Zwischenfällen käme."
Schwelender Konflikt und Diskriminierungen
Bei aller Gastfreundschaft gegenüber den englischen Fußballfans, darf man jedoch nicht vergessen, dass das Verhältnis der Kosovo-Albaner gegenüber anderen Nationen oder Bevölkerungsgruppen im eigenen Land auch von Diskriminierung und Benachteiligung geprägt ist. So kursieren Videos im Netz, in denen englische und kosovarische Fans sich verbrüdern und Serbien-feindliche Gesänge anstimmen ("Serbians are bastards!"). Die Haltung der Kosovo-Albaner gegenüber der serbischen Minderheit im Land - immerhin rund 130.000 Menschen (Gesamtbevölkerung des Kosovo: ca. 1,8 Millionen) - ist auch etwas mehr als 20 Jahre nach dem Kosovo-Krieg ablehnend, die Lage entsprechend angespannt. Die Gefahr, dass es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen könnte, ist im Grunde immer gegeben.
Die serbisch-stämmigen Kosovaren sind, was Bildung, Krankenversicherung und Rente angeht, von Belgrad abhängig. Führende Politiker im Kosovo haben indes kein Interesse an Frieden mit Serbien, das die Unabhängigkeit der ehemaligen Provinz nach wie vor nicht anerkennt und dem Kosovo, gemeinsam mit anderen Staaten, den Zugang zu internationalen Organisationen verwehrt - zum Beispiel zur Polizeiorganisation Interpol. Wer sich politisch auf die jeweils andere Bevölkerungsgruppe zubewegt, wird - vor allem von den radikaleren Parteien in Serbien und im Kosovo - als Landesverräter beschimpft.
Auch die Lage der Roma, einer weiteren Minderheit im Kosovo, ist prekär. Angehörige werden in Bereichen wie Bildung, Gesundheit und auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt. Immer wieder werden Roma im Kosovo - genau wie in anderen Balkanstaaten - zu Opfern gewalttätiger Übergriffe.
Feinde und Freunde bei der EURO
Es ist also nicht immer so rosarot und anti-rassistisch, wie im Vorfeld der Partie Kosovo-England. Und die politischen Spannungen rund um den Kosovo könnten auch die UEFA im nächsten Jahr noch beschäftigen. Dann nämlich, wenn das Team des Kosovo sich auf dem Umweg über die Nations-League-Play-offs doch noch für die Europameisterschaft qualifiziert. Im Halbfinale ist dort zunächst Nordmazedonien der Gegner, danach warten entweder Georgien oder Weißrussland.
Sollte der Kosovo die Qualifikation schaffen, gäbe es im Teilnehmerfeld der EM neben Serbien, das sich genau wie die Kosovaren über die Play-offs qualifizieren muss, und Russland zwei Nationalmannschaften, die aus politischen Gründen nicht als Gegner des Kosovo infrage kommen. Da weder Serben noch Russen den Kosovo anerkennen, schließen die UEFA-Statuten eine Begegnung mit dem Kosovo zumindest in der Vorrunde aus.
Komplizierter ist der Fall bei Bosnien/Herzegowina, das ebenfalls in den Play-offs antritt: Hier verhindert der politische Einfluss der bosnischen Serben - rund ein Drittel der Bevölkerung - eine Anerkennung des Kosovo, auch wenn die meisten anderen Bosnier, in der Mehrzahl Bosniaken und Kroaten, eher nicht gegen einen unabhängigen Kosovo sind. Im Gegenteil: Viele freuen sich sogar über die fußballerischen Erfolge des Kosovo. Auf der "Schwarzen Liste" der UEFA steht die Partie Kosovo-Bosnien-Herzegowina aber dennoch. Kein Wunder, dass die Auslosung der EM-Gruppen schon jetzt als komplizierter Vorgang gilt.
Vielleicht kommt es bei der EURO 2020 aber auch wieder zu einem Spiel zwischen Kosovo und England. Und das wäre dann - auch wenn es um wichtige Punkte oder das Erreichen der nächsten Runde ginge - in jedem Fall ein Freundschaftsspiel.