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Wo wir sind, ist vorn in Europa?

Barbara Wesel Kommentarbild App *PROVISORISCH*
Barbara Wesel
22. Juli 2015

Mitten in der Krise der EU, im Streit um Solidarität in der Union, holt Paris die Idee von einer Avantgarde der Euroländer vor. Aber dies ist der falsche Zeitpunkt für einen kühnen Sprung nach vorn, meint Barbara Wesel.

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Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Hollande (Foto: Tobias Schwarz/Pool via AP)
Bild: AP

"Durch Krisen ist die EU noch immer stärker geworden" - das gehört zu den Standardplattitüden des europäischen Einigungsprozesses. Gerade hat Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier vor diesem Kinderglauben gewarnt: Er sei sich nicht sicher, ob es dieses Mal so leicht sein werde. Und ein Blick in die gesamt-europäische Presse zeigt, dass allerorten die Griechenlandkrise zur Zerreißprobe für die Europäische Union stilisiert wird. Es fehle der Geist der Solidarität, heißt es vor allem in englischen und französischen Kommentaren, enge Nationalinteressen würden darüber triumphieren, und die tiefen Gräben in wirtschaftlichen und politischen Fragen seien bloßgelegt. Es verblüfft, dass dabei besonders die angelsächsischen Blogs und Blätter voller Zorn und Häme von Deutschland unbegrenzte Solidarität mit Griechenland einfordern. Sind es dabei nicht gerade die Briten, die für sich Solidarität vollständig ablehnen? Hier werden wohl verschiedene Mitgliedsländer mit zweierlei Maß gemessen.

Brauchen wir jetzt mehr Europa?

Auf der einen Seite basiert der grenzenlose Zorn auf die Deutschen, denen gleichzeitig eine fiskalpolitische "Krämerseele" und neo-kolonialistische "Herrschsucht" vorgeworfen werden, wohl einfach auf Enttäuschung. Denn über Jahrzehnte hatte in der EU der Satz gegolten: Im Zweifel zahlt Deutschland. Auf dieses Prinzip hatte auch die Regierung Tsipras lange gesetzt. Wo immer in der EU für die Beilegung von Problemen oder zum Schmieden von Kompromissen Geld gebraucht wurde, zeigte Berlin sich großzügig. Das war historisch bedingt eine Art Sonderleistung zum "Aufbau Europa" und ganz in Ordnung. Volkswirte nennen das auch "Entscheidungsfindungskosten". Aber diese verlängerte Nachkriegsphase ist vorbei.

Barbara Wesel Studio Brüssel
DW-Europa-Korrespondentin Barbara WeselBild: DW/G. Matthes

Nun kommt aus Frankreich, wo man der Bundesregierung vor allem einen Mangel an europäischer Vision vorwirft, eine alte Idee in neuer Verkleidung: Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Europa und sollten eine Art Avantgarde Bündnis gründen, sagt François Hollande. Darüber diskutiert man immer wieder einmal seit zwanzig Jahren, und zwar unter dem Stichwort "Kerneuropa". Ein paar willige Staaten sollen sich enger zusammenschließen und schon mal mit gemeinsamen Institutionen vorangehen, während andere langsam hinterherzockeln. Da gerät der französische Präsident regelrecht in europäischen Taumel: Er habe vorgeschlagen, "die Idee von einer Euro-Regierung aufzugreifen und diese mit einem eigenen Etat und einem eigenen Parlament auszustatten". Träum weiter, François! Und sag uns auch gleich, ob der Finanzminister Deutscher oder Franzose sein soll. Der zu Unrecht inzwischen vielgeschmähte Wolfgang Schäuble muss jetzt ein besonderes Déjà-vue erleben: Hatte er nicht schon in den neunziger Jahren Deutschland und Frankreich als "harten Kern" dieser europäischen Vorhut gesehen?

Es fehlt der Konsens über Regeln und Rahmen

In dieser neuen Debatte über europäische Visionen und Ziele läuft alles munter durcheinander: Die europäische Kulturgeschichte, Ideale und Excel-Tabellen, der Schuldenschnitt und der Nationalstolz der Völker. Es entsteht ein chaotisches Knäuel aus Ideologien und Träumen von einer besseren Welt. Und wo ist dabei "Vorn" oder eben die Avantgarde? Würde das Leben besser, wenn man Frankreich und Deutschland enger zusammenspannte? Die französischen Nachbarn stehen vor einem unbewältigten Reformstau, kämpfen mit ihrem überbordenden Sozialstaat und dem ewigen Revolutions-Gen in jedem Franzosen. In Deutschland ist etwas zu viel Neoliberalismus in der Mischung, es gäbe allerhand soziale Wunden zu heilen, und noch immer wohnt im deutschen Bürger ein Sparsamkeits- und Ordnungswichtel. Und diese beiden sollen nun eine Art Euro-Regierung bilden und sich auf gemeinsame Regeln einigen? Das ging bisher nicht, warum also sollte es plötzlich möglich sein?

Überhaupt: Ist diese Zeit der Krisen und Verwerfungen, Beschimpfungen und krachenden Zerwürfnisse der richtige Moment, um einen weiteren kühnen Sprung ins Nichts zu wagen? Wahrscheinlich eher nicht. Und auch die alte Warnung vor einer Spaltung Europas in geographische, ökonomische oder politische Gruppen gilt noch fort: Sie könnte zur völligen Auflösung führen. Wer möchte schon als Land zweiter Klasse zu den Nachzüglern, den Schuldnern, den Reformunfähigen gezählt werden? Zu wenig Mut kann Europa lähmen, zu viel Mut aber kann es umbringen. Wir sollten jetzt nicht Selbstmord begehen, aus Angst vor Streit in der Familie. Auch wenn man einräumen muss, dass die Stimmung lange nicht mehr so schlecht war. Die nächste große Krise aber, die nicht Griechenland heißt, dürfte die Aufmerksamkeit wieder auf die Vorteile lenken, die der verkrachte Clan trotz allem bietet.