1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Integration heißt Chancen bieten

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp
27. Oktober 2015

Vor zehn Jahren gingen in Frankreich Tausende Jugendliche mit Migrationshintergrund auf die Straße. Ihr Unmut entlud sich in anhaltender Gewalt. Deutschland kann aus den Fehlern der Franzosen lernen, meint Kersten Knipp.

https://p.dw.com/p/1Gv8j
Frankreich Paris Unruhen in Banlieues 2005 (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Über eines sind sich die meisten Franzosen Umfragen zufolge einig: Vor den Bewohnern der Vorstädte, der sogenannten "banlieues", müsse man sich hüten. Denn die Nachkommen der überwiegend aus dem Maghreb und Subsahara-Afrika stammenden Migranten seien gefährlich, arm und leicht verwahrlost. Außerdem schotteten sie sich ab.

Dass die politischen Parteien den Missständen in den "banlieues" beikommen könnten, halten die meisten der Befragten für unwahrscheinlich.

Bloßes Fassadenwerk?

Besonders besorgniserregend ist: Seit den gewalttätigen Ausschreitungen im Herbst 2005 haben sich die beiden Gruppen der angestammten und zugewanderten Franzosen noch weiter auseinander entwickelt. Und das, obwohl seit den Protesten einiges geschehen ist: Neue Sozialpläne wurden aufgelegt, Milliarden Euro flossen in die Entwicklung und Modernisierung der "sensiblen urbanen Zonen" (ZUS), wie die "banlieues" offiziell genannt werden. Die Investitionen waren durchaus erfolgreich - in großen Teilen zumindest. Viele Bewohner äußern sich anerkennend über die Fortschritte, die ihre Viertel zumindest optisch gemacht haben. Andere empfinden genau das als Manko: Zwar seien die Fassaden verschönert worden. Aber dahinter, an den eigentlichen Problemen, habe sich nichts geändert.

Die Zahlen bestätigen die Kritik: Das Einkommen der ZUS-Bewohner beträgt im Schnitt gerade einmal 56 Prozent des nationalen Durchschnitts. Die allgemeine Arbeitslosigkeit liegt zehn, die der Jugendlichen sogar 22 Prozent über dem nationalen Mittelwert. Das Gefühl, chancenlos zu sein, hat sich seit 2008, als der Euro in die Krise geriet, noch einmal verschärft. Seit Jahrzehnten versuchen sämtliche französische Regierungen, die Wirtschaftskrise in den Griff zu bekommen, allesamt vergeblich. Die Konsequenzen des Scheiterns bekommen vor allem die Einwohner der "banlieues" zu spüren. Die Folge: Die Kriminalität, insbesondere der Drogenhandel, gewinnt ebenso an Boden wie der radikale Islam. Gerade der religiöse Fundamentalismus zeigt: Wo Politik versagt, greifen überspannte Identitätsdiskurse.

Knipp Kersten Kommentarbild App
DW-Autor Kersten Knipp

Was Deutschland lernen kann

Wenn Deutschland aus den französischen Erfahrungen eines lernen kann, dann wohl dieses: Der öffentliche Diskurs über Migration und Integration ist alles andere als harmlos. Zumindest in ihrer massentauglichen Variante sind reale oder vermeintliche Erfahrungsberichte immer auch Zuschreibungen. Wenn fast 80 Prozent der ethnischen Franzosen zu ihren aus der Migration hervorgegangenen Mitbürgern ein mindestens distanziertes, wenn nicht unterkühltes Verhältnis haben, spricht sehr viel dafür, dass die Distanz zwischen den beiden Gruppen auch in Zukunft bestehen bleibt. Wenn eine Gruppe sich über eine andere Gruppe äußert, beeinflusst das unvermeidlich auch das Verhältnis zwischen ihnen. Die Rede über die Eigenschaften der "Anderen" beschreibt diese nicht nur - sie trägt auch dazu bei, reale Eigenschaften ebenso wie Vorurteile am Leben zu erhalten. Erfahrungen mögen auf der Vergangenheit gründen. Aber vor allem formen sie die Zukunft.

Die derzeitigen Wanderungsbewegungen mögen sich hie und da einschränken lassen. Aber grundsätzlich aufzuhalten sind sie nicht mehr. Zumindest kurzfristig ist Deutschland von ihnen noch stärker betroffen als Frankreich. Und das heißt: Das Gesellschaftsmodell der Bundesrepublik wird fortan nicht mehr selbstverständlich sein. Es wird von anderen Vorstellungen herausgefordert werden. Zumindest werden sich ihm andere Konzepte zur Seite stellen, wenn nicht im Großen, so doch im Kleinen.

Darum werden alle, die sich dem bislang herrschenden Modell verschrieben haben, für dieses eintreten müssen. Möglich ist das aber nicht durch Abgrenzung, sondern einzig und allein durch Dialog und Offenheit. Im Guten wie im Schlechten zeigt das Beispiel Frankreichs: Der einzige Weg, die Loyalität zum politischen Selbstverständnis der Bundesrepublik zu erhalten, besteht darin, den Neuankömmlingen echte Chancen zu gewähren, ihnen wirtschaftlich die Türen so weit wie möglich offen zu halten. Das erfordert Anstrengung und Offenheit. Aber ohne Anstrengung und Offenheit hat das bundesdeutsche Gesellschaftsmodell schon fast verloren.

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika