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Glanz und Elend des Patriotismus

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp
17. August 2016

Deutschland verändert sich demographisch rasend schnell. Das ist gefährlich, meint Kersten Knipp: Denn das derzeitige Tempo überfordert die meisten Bundesbürger. Darum gefährdet es die demokratische Kultur.

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Pegida-demonstration in Dresden (Foto: picture-alliance/dpa)
Pegida-Demonstration in DresdenBild: picture-alliance/dpa

Irgendwann, eine ganze Reihe von Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs, dachte der Politikwissenschaftler Dolf Sternberger darüber nach, auf welche Formel sich Patriotismus in Deutschland nach dem Sündenfall noch bringen ließe. Seine Antwort kleidete er in einen einzigen Begriff: Verfassungspatriotismus. Der sei kein Ersatz für den herkömmlichen nationalen Patriotismus. Vielmehr gründe er auf einem ganz eigenen Fundament. Patriotismus und Staatsverfassung hingen eng miteinander zusammen.

Der spröde Charme der Verfassung

Heute, knapp vier Jahrzehnte nach Sternbergers epochemachendem Begriff, stellt sich die Frage, wie verfassungspatriotisch die Deutschen sind. Wie stehen sie in Zeiten einwanderungsbedingten Stresses zu ihrer Verfassung? Größtenteils, kann man sagen, bekennen sie sich zu ihr. Klar ist aber auch: Die patriotischen Regungen der allermeisten erschöpfen sich in der Verfassung nicht. Mit dem Land verbinden die meisten Deutschen viel mehr als nur das Grundgesetz.

Das liegt wohl daran, dass dieses - wie die Verfassungen anderer Länder auch - von durchaus abstrakter Natur ist. Ein paar Blätter Papier, darin erschöpft sich ihr materieller Gehalt. Sinnlichkeit verströmt es nicht. Könnte es aber sein, dass Patriotismus genau das braucht: Sinnlichkeit?

Maximale Provokation

Ex negativo kann man derzeit die Probe aufs Exempel machen. Gelegenheit dazu bietet die Diskussion um den Niqab. Was immer man von dem Stückchen Stoff halten mag: Sinnlich ist es. In seiner abweisenden Form springt es dem Gegenüber geradezu ins Auge. Bei den meisten weckt es heftige Gefühle - meist wenig freundliche. Die häufigste Empfindung dürfte Empörung sein: Wie können die es wagen, hier - in Deutschland - so aufzutreten?! Der Niqab hat das Zeug zur maximalen Provokation.

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DW-Autor Kersten Knipp

Am Niqab zeigt sich: Gefühle von Vertrautheit und Fremdheit, Integration und Ausschluss basieren zu großen Teilen auf sinnlicher Erfahrung. Die Welt ist konkret, und der Mensch, so wie er gemacht ist, reagiert auf Konkretes sehr stark. Abstraktion ist seine Stärke nur bedingt. Binden lässt er sich kaum durch sie, die eigentlichen Regungen laufen über andere Kanäle. Zugehörigkeit hat viel mit Affekten zu tun.

Ein kühnes Experiment

Diese Verbindung zu unterlaufen: Das ist das große Experiment, dem sich Deutschland unter Führung Angela Merkels verschrieben hat. Inspiration und Ermunterung finden die Anhänger dieses Experiments in den Schriften prominenter Theoretiker sogenannter "multipler", "heterogener" oder "liquider" Identitäten. "Wir können uns die, mit denen wir zusammenleben, nicht aussuchen", schreibt etwa die Philosophin Judith Butler, ein Star der post-identitären Szene. "Wir müssen diesen nicht auf Wahl begründeten Charakter des pluralistischen Zusammenlebens aktiv erhalten."

Mag sein. Ruhig angehen lassen sollte man es trotzdem. Die Menschen, die meisten jedenfalls, sind nicht nur sinnliche, sondern auch ausgesprochen konservative Wesen. Sie mögen die Welt so, wie sie sie kennen. Veränderungen sind ihre Sache zwar auch - allerdings in Maßen.

Verfassungspatrioten, Verfassungsverächter

Derzeit aber geht es sehr, sehr schnell. Zu schnell für den Geschmack sehr vieler. Das Land verändert sich in atemberaubenden Rhythmen. Man kann Menschen einiges zumuten. Überstrapazieren sollte man sie nicht. In politischen Umfragen deutet es sich an: Zu schnelle Veränderungen setzen gewachsene demokratische Kulturen unter Druck. Darum: Tempo raus. Damit aus Verfassungspatrioten am Ende keine Verfassungsverächter werden. Dass sie für diese Rolle taugen, haben die Deutschen während des Nationalsozialismus hinlänglich bewiesen. Runterschalten also. Das schützt die Deutschen nicht zuletzt auch vor sich selbst.

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DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika