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PolitikEuropa

EU reitet den Tiger

Barbara Wesel Kommentarbild App *PROVISORISCH*
Barbara Wesel
19. August 2020

Ungewohnt einig stellt sich die EU an die Seite der Demonstranten in Belarus und spricht Machthaber Lukaschenko den gefälschten Wahlsieg ab. Richtig, aber auch riskant, meint Barbara Wesel.

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EU Virtueller Gipfel Belarus Belgien Charles Michel
Bild: Reuters/O. Hoslet

Ein chinesisches Sprichwort sagt, dass wer dem Tiger eine Glocke an den Schwanz heftet, sie auch wieder abbinden muss. Die EU hat in der Krise in Belarus plötzlich ihren außenpolitischen Mut gefunden und Wladimir Putin heraus gefordert. Über zwei Jahrzehnte lang sah sie dem unterdrückerischen Treiben von Machthaber Alexander Lukaschenko zu, weil sein Land ganz klar zu Moskaus Einflussgebiet gehört. Da war die Devise: Nicht hinschauen, nicht anrühren. Was hat sich plötzlich verändert?

Osteuropäer in neuer Einigkeit

Nicht nur Polen und Litauen, wo ein Teil der Opposition und viele Emigranten aus Belarus Zuflucht gefunden haben, sondern auch die Slowakei, Tschechien und am Ende sogar Ungarn – wo es durchaus Freunde des Autokraten Lukaschenko gibt – sahen in den Protesten in Belarus plötzlich den Spiegel ihrer eigenen Vergangenheit.

Mutige Protestierer, die für Freiheit und demokratische Wahlen auf die Straßen gehen, von der Polizei verprügelt und festgenommen werden – daran erinnern sie sich in Warschau, Vilnius, in Prag oder Bratislava noch aus den Jahren um 1989. Und selbst dort, wo demokratische Regeln inzwischen gerne auch infrage gestellt werden, ist die entfesselte Diktatur eines Alexander Lukaschenko die unerwünschte Erinnerung an andere, dunkle Zeiten.

Eine Rolle spielt auch die Russlandskepsis, bei einigen sogar Feindschaft, so dass die Idee, dem Kremlherrn auf die Füße zu treten, ihn ein bisschen zu provozieren, in der EU erstaunlich viele Freunde fand. Viele Osteuropäer sehen die Demonstranten in Minsk und andernorts als Brüder und Schwestern, denen sie auch den Duft von Freiheit gönnen.

Demokratisch korrektes, politisch riskantes Handeln

Die EU hat jetzt moralisch und politisch alles getan, um der Mehrheit in Belarus ihre Unterstützung zu zeigen. In ihrer Lage kann es schon wichtig sein, international gesehen und gehört zu werden. Zu wissen, dass die Augen Europas auf die Ereignisse gerichtet sind und brutale Gewalt wahrgenommen und verurteilt wird.

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Barbara Wesel ist Europa-Korrespondentin in Brüssel

Mehr können die Europäer allerdings auch nicht tun. Die Einwohner von Belarus müssen den begonnenen Weg selbst weiter gehen, den Druck aufrechterhalten und darauf hoffen, dass der Langzeitdiktator irgendwie das Feld räumt. Wie immer hängt viel davon ab, ob Armee und Sicherheitskräfte weiter an seiner Seite bleiben. Noch mehr aber hängt der Ausgang des Konfliktes von der Entscheidung des russischen Präsidenten ab.

Die deutsche Bundeskanzlerin und der französische Präsident haben an ihn appelliert, den Menschen in Belarus ein Mindestmaß an Entscheidungsfreiheit zu gewähren. Aber kann er sich das leisten ohne Nachahmer im eigenen Land zu befördern? Merkel und Macron haben auch implizit zu verstehen gegeben, dass sie keine Wiederholung einer Militäraktion wie 2015 in der Ukraine wollen.

So sähe nämlich das Szenario des "schlimmsten Falles" aus, und die ultimative Waffe der Europäer dagegen wären neue, viel härtere Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Die kann sich Putin in seiner ökonomisch prekären Situation kaum leisten. Und sie würden die Europäer in eine totale Konfrontation zu Russland bringen, was auch niemand will.

Und was, wenn der Poker schief geht?

Es ist nicht sicher, ob das riskante Spiel gut geht. Die Europäer müssen jetzt so viel Abstand zur Opposition in Belarus nehmen wie möglich, um ihre Seite des Schwures einzuhalten, dass keiner von außen eingreifen dürfe. Sie müssen auch vermeiden, dass Präsident Putin sich in die Ecke gedrängt fühlt.

Es gibt eine gewisse Chance, dass der diplomatische Hochseilakt gelingt. Dann könnte die EU einen ihrer seltenen außenpolitischen Erfolge verbuchen und sich ein Goldsternchen als Verteidiger von Freiheit und Demokratie ans Revers heften. Es kann aber auch alles schrecklich schief gehen, Putin eine Marionettenregierung von eigenen Gnaden in Minsk einsetzen und dem Land den Rest seiner Selbstbestimmung nehmen.

Dennoch hatte die EU hier eine ihrer besseren Stunden: Sie hat in schwieriger Situation die mutigere Politik gewählt. Die Hoffnung ist, dass nicht am Ende die Menschen in Belarus die Zeche zahlen müssen.