Der 100-Meter-Lauf ist das Highlight der Olympischen Spiele. Diesen Satz werden die meisten Sportfans guten Gewissens unterschreiben. Kaum ein Wettkampf fasziniert weltweit Menschen aus allen Kulturen gleichermaßen wie das knapp zehnsekündige Spektakel der Sprinter. Wenn aber nicht einmal dieser Wettkampf ausverkauft ist, läuft etwas falsch im Staate Olympia. Das Olympiastadion war an den anderen Tagen mit Leichtathletikentscheidungen oft nur zur 60 Prozent ausgelastet, die Arenen von Ringen, Fechten, Bahnradfahren, Fußball oder sogar Schwimmen blieben oft ähnlich unterbesetzt. Der Grund: Vielen Brasilianern waren die Olympiatickets schlicht zu teuer. Aber das ist nicht die ganze Erklärung: Gut die Hälfte der rund 280.000 an Schulkinder verteilten Freikarten blieben ungenutzt. Hat Olympia seinen Reiz verloren?
Ja und Nein. Nein, denn auch Rio 2016 bot unglaublich packende Entscheidungen wie den Elfmeterkrimi zwischen Brasilien und Deutschland, das emotionale Tennis-Halbfinale zwischen Del Potro und Nadal, den Rugby-Triumph Fidschis, den Last-Second-Sieg der französischen Handballer über Deutschland oder das Straßenrad-Herzschlagfinale an der Copacabana. Der sportliche Wettstreit zwischen Menschen aus allen Ländern der Welt fasziniert noch immer und fesselt Milliarden Menschen an Fernseher, Radio oder heute eben an das Smartphone. Zugleich heißt die Antwort auch Ja, denn die Spiele entfernen sich immer mehr von ihren Ursprüngen und Idealen. Die um sich greifende Kommerzialisierung der Spiele, der durch Dopingskandale aufkeimende Zweifel an den gezeigten Leistungen, die teilweise Lahmlegung des öffentlichen Verkehrs abseits der reservierten Olympic Lane, die nötig gewordenen strengen Sicherheitsmaßnahmen - alles Faktoren, die eine gewisse Verdrossenheit des Publikums erklären.
Die Menschen haben genug vom olympischen Gigantismus
Und das eigentlich sportbegeisterte Rio ist nicht allein, andere Städte gingen viel weiter: München, Krakau, Stockholm, Oslo und Hamburg sagten zuletzt schon im Bewerbungsprozess "Nein" zu Olympia. Zu hohe Kosten für den Steuerzahler, zu viele Sonderwünsche des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) und am Ende wohlmögliche ungenutzt verfallene Sport-Ruinen wie in Athen - viele Menschen haben genug vom olympischen Gigantismus.
Wenn dann noch hochrangige IOC-Funktionäre wie der Ire Patrick Hickey Schwarzhandel mit Tickets betreiben und deswegen von der Polizei festgenommen werden, bestätigt sich das Bild der korrupten und prunksüchtigen Sportfunktionäre, die jedes Ausrichterland in Kauf nehmen muss. Wenn zusätzlich auch noch Athleten wie die US-Schwimmer Ryan Lochte und James Feigen einen Raubüberfall erfinden, um damit vom eigenen Vandalismus abzulenken, ist klar, dass Olympia momentan ein Imageproblem hat. Wie glaubwürdig ist die sogenannte olympische Familie überhaupt?
Positive Nachtests zeigen: Saubere Spiele sind eine Illusion
Der Verdacht rannte, warf, sprang und fuhr wie immer mit. Rätselhafte Leistungsentwicklungen unter anderem im Bahnradsport, Dopingfälle im Gewichtheben und: Bei Dopingkontrollen verwechselten ein paar offensichtlich schlecht geschulte Kontrolleure die Namen und sogar das Geschlecht der zu testenden Athleten. Einige Volunteers kündigten unfreiwillig eigentlich unangekündigte Dopingtests vorab an. So muss hinter das Kontrollsystem von Rio ein Fragezeichen gesetzt werden. Ohnehin zeigen Dutzende positive Nachtests aus Peking, London und Sotschi, dass die Abrechnung erst später erfolgen wird und saubere Spiele eine Illusion sind.
Nicht unerwähnt sollen aber auch jene Merkwürdigkeiten bleiben, mit der die Sportfunktionäre uns alle immer wieder verblüfften. Nicht nur die Tatsache, dass das Gros des russischen Teams zu den Olympischen Spielen starten darf, zu den Paralympics aber nicht, lässt an der olympischen Logik zweifeln. Auch die Entscheidung, mit der Russin Jelena Issinbajewa ausgerechnet eine für Rio wegen Dopingverdachts gesperrte Sportlerin zur olympischen Athletensprecherin zu küren, hinterlässt Kopfschütteln. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass FIFA-Funktionär Issa Hayatou hier Siegerehrungen vornehmen durfte - eine Ehre, die man einem engen Blatter-Vertrauten, gegen den bereits hinlänglich wegen Korruptionsvorwürfen ermittelt wurde, nicht zuteil werden lassen sollte.
Und dennoch: Die Spiele der Jugend sind noch immer eine brillante Idee. Die Völker der Welt friedlich zum sportlichen Wettstreit und kulturellen Austausch an einem Ort zusammenzuführen, bleibt ein wunderbarer Gedanke. Dieses Treffen allerding immer größer und teurer zu machen, ist ein großer Fehler. Rio hat dem IOC mit den nur halbvollen Arenen einen Warnschuss gegeben. Bleibt zu hoffen, dass die Botschaft nun auch ankommt.