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Politik

May hinter den Spiegeln

Robert Mudge - Kommentatorenbild (PROVISORISCH)
Robert Mudge
3. April 2019

Der Umgang der britischen Regierung mit dem Brexit wird Tag für Tag chaotischer. Kann man sie überhaupt noch ernst nehmen? Der britische DW-Redakteur Robert Mudge fragt sich, ob das zum Lachen oder zum Heulen ist.

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UK Bröckelnde Fassade Palace of Westminster Houses of Parliament
Nicht nur die Fassaden bröckeln am Palace of Westminster, in dem das britische Parlament untergebracht istBild: picture-alliance/empics/S. Rousseau

Vor zwei Wochen berief sich "Speaker" John Bercow auf das parlamentarische Traktat "Erkine May", um Theresa Mays Versuch eines dritten Votums über ihr Abkommen mit der EU zu verhindern. Dieser Text hält fest, dass das britische Parlament im April 1604 zu dem Schluss kam, "dass eine Frage, die einmal gestellt und affirmativ oder negativ vollzogen wurde, nicht noch einmal gestellt werden kann, sondern als Urteil des Hauses steht".    

Ein Jahr später, am 5. November 1605, versuchte ein junger Engländer, das Antlitz der britischen Politik radikal zu verändern - durch ein Komplott, das alles ins Jenseits gebombt hätte. Der Plan, das Oberhaus (House of Lords) in die Luft zu jagen - bekannt als "Gunpowder Plot" - war Teil eines Anschlagsversuchs gegen König James I. mit dem Ziel, wieder einen Katholiken auf den Thron zu bringen. 

Das Komplott scheiterte, Guy Fawkes wurde verhaftet, gefoltert und hingerichtet. Ursprünglich nannte er seinen Vernehmern den Namen John Johnson. Es ist nicht bekannt, ob sich Boris Johnson als Nachfahre des Mannes sieht.  

Shakespeare hätte einen Heidenspaß!

Heutzutage wäre etwas so Drastisches gar nicht mehr nötig. Oberhaus und Unterhaus sind ohnehin getrennt - im wörtlichen und im metaphorischen Sinn. Es ist kein Zufall, dass das Bild des britischen Graffiti-Künstlers Bansky "Devolved Parliament" wieder im Bristol Museum zu sehen ist. In Anbetracht des Benehmens einiger Parlamentarier auf beiden Seiten wäre es allerdings etwas respektlos gegenüber den Affen, sie mit jenen Personen zu vergleichen, die die gegenwärtige Show verantworten.

UK Banksy-Bild zum Brexit
Banskys Affen im Bristol MuseumBild: picture-alliance/empics/S. Parsons

"Show" ist dabei ein Schlüsselwort. Was sich gerade vor unseren Augen abspielt, ist zu einer Farce und einer Tragödie geworden. Wäre Shakespeare noch am Leben - er hätte einen Heidenspaß! 

Wenn man sich das Vorgehen der Regierung in Sachen Brexit ansieht, staunt man, dass Britannien einst "die Wellen beherrschen" konnte, wie es im patriotischen Lied "Rule, Britannia" heißt. Heutzutage reicht es bestenfalls für einen verpfuschten Fähren-Deal, bei dem das Startup Seaborne Freight einen Vertrag über 14 Millionen britische Pfund (rund 16 Millionen Euro) bekommt, um für den Fall eines No-Deal-Brexits eine neue Fährroute ans EU-Festland für Notfall-Medikamente zu eröffnen - obwohl das Unternehmen weder Schiffe noch eine Hafenlizenz vorweisen konnte.

Verdrehte Brexit-Welt

Lewis Carroll, ein Schriftsteller aus viktorianischer Zeit, schien die verdrehte Brexit-Welt vorauszusehen, als er in "Alice hinter den Spiegeln" seiner Titelheldin folgende Worte in den Mund legte: "Wenn ich meine eigene Welt hätte, wäre alles Nonsens. Nichts wäre, was es ist, weil alles wäre, was es nicht ist. Und, im Gegenteil, was ist, wäre nicht. Und was es nicht wäre, wäre es. Verstehst du?" 

Verwirrt Sie das? Nun ja, Theresa May hat das alles auf eine neue Stufe gehoben. Tatsächlich können wir den Vergleich weiterführen. In einer anderen Szene des Buches tadelt die Weiße Königin die junge Alice, weil diese es ablehnt, "unmögliche Dinge" zu glauben. "Warum?", sagt die Königin, "manchmal habe ich schon vor dem Frühstück sechs unmögliche Dinge geglaubt." 

Ich beschränke mich auf zwei der krassesten Beispiele:

1) May erwartet weiterhin, dass ihre Kollegen - und noch wichtiger: das Land - an einen Sieg für ihr "Withdrawal Agreement" im Unterhaus (House of Commons) glauben: Doch fast niemand glaubt das, nicht einmal sie selbst.

2) Sie hat immer noch die Kontrolle über den Brexit.

Leben im Wolkenkuckucksheim

Was mich zu den Definitionen von "wahnhaft" bringt:

- charakterisiert durch oder festhaltend an sehr eigentümlichen Glaubenssätzen oder Impressionen, denen die Realität oder rationale Argumente widersprechen

- basierend auf falschen Urteilen, irrtümlich

Mudge Robert Kommentarbild App PROVISORISCH
DW-Redakteur Robert Mudge

Die britische Regierung lebt im Wolkenkuckucksheim, wenn sie weiterhin glaubt, dass es auch nur einen halbwegs plausiblen Ausweg aus dem Brexit-Chaos gibt. Auch jenseits des wirtschaftlichen und politischen Schadens einer jeden Art von Brexit für Großbritannien und ebenfalls die EU, sind die negativen Folgen für die Psyche der Nation und das Ansehen der Briten wohl noch schlimmer. 

Wenn und falls sich der Brexit-Staub wieder gelegt hat, wird Großbritannien immer noch auf Jahre das Gespött der Welt bleiben. Sogar deutsche Comedians haben inzwischen durch den Brexit ihren besonderen Sinn für Humor entdeckt.    

Hinter dieser Schnodderigkeit verstecken sich Hoffnungslosigkeit, Verzagtheit und Verzweiflung. Mays Starrsinn und ihre nur scheinbare Kontrolle über den Brexit sind in etwa so hilfreich wie Boris Johnsons neue Frisur (nicht einmal die verleiht ihm ein Premierminister-haftes Aussehen). Nichts am Spektakel im britischen Parlament ist ordentlich oder würdig (außer der beeindruckenden Darbietung und markanten Rufe des Parlamentsvorsitzenden John Bercow, wenn er "Order!" anmahnt). 

Der große irische Dramatiker George Bernard Shaw schrieb einst: "Fortschritt ist unmöglich ohne Veränderung, und wer seine Meinung nicht ändern kann, kann gar nichts ändern."