Abschied von Recht und Humanität
Noch immer sitzen bis zu 20.000 Flüchtlinge im Grenzgebiet zwischen Griechenland und der Türkei fest. Aber der Wille der EU, dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan harte Kante zu zeigen, ist stärker als jede humanitäre Regung. Sie bleiben ihrem Schicksal und von Fall zu Fall der Brutalität griechischer Grenzpolizisten überlassen. Aber auch abgesehen von diesen jüngsten Ereignissen - längst werden die international verbrieften Rechte von Flüchtlingen in der EU systematisch ausgehöhlt.
Aktion Feigenblatt
Auch ohne die Corona-Krise stehen Flüchtlinge, selbst die verzweifelten Syrer, bei uns längst einer Ermüdung des Mitgefühls gegenüber. Nur eine Minderheit in Europa fordert noch Humanität. Jüngst hatte wenigstens die Not der unbegleiteten Kinder noch die mutige Initiative deutscher Bürgermeister und Landespolitiker auf den Plan gerufen - sie sind bereit, die Jugendlichen aufzunehmen. Aber was die Bundesregierung dann draus machte, war zu wenig und zu spät. Und das Treffen der EU-Innenminister in Brüssel brachte auch keinen Durchbruch: Inzwischen beteiligen sich zwar bis zu neun Länder an dem Plan, aber die Niederlande, Schweden und die üblichen Verdächtigen, die auch sonst jede Aufnahme von Flüchtlingen ablehnen, sagen knallhart "Nein".
Insgesamt sollen überhaupt nur rund 1600 von rund 5500 notleidenden Kindern aus griechischen Lagern geholt werden. Das Ganze ist bestenfalls noch eine Aktion Feigenblatt. Und wann und ob Minderjährigen nun weiterreisen werden, ist derzeit auch ungewiss. Sie warten schon so lange auf Hilfe, da kann es auf ein paar Monate mehr ja nicht ankommen - oder wie?
Deutschland soll mit etlichen hundert Kindern beteiligt sein. Das ist ein totales Armutszeugnis. Dabei könnte die Bundesrepublik problemlos 25.000 freie Plätze in Erstaufnahmelagern und noch einmal 40.000 auf Ebene der Bundesländer bereitstellen, so wurde jetzt gemeldet. Aber die Devise heißt: "Die Grenzen bleiben zu", wie Ursula von der Leyen, die Präsidentin der EU-Kommission betont. Alles andere zählt nicht. Von Humanität spricht niemand mehr.
EU will Rückkehrer bezahlen
Und dann gibt es noch diese Aktion: Wir zahlen, wenn ihr nach Hause geht. Diese Initiative der EU-Kommission ist ein Zeichen echter Hilflosigkeit. Ursula von der Leyen hatte ihre geplante Reise nach Athen wegen der Corona-Krise über Nacht abgesagt. Dort wollte sie eigentlich ein Heim für unbegleitete Flüchtlingskinder besuchen. Das hätte jedenfalls bessere Bilder ergeben als in der Vorwoche die unschönen Aufnahmen an der griechisch-türkischen Grenze. Dort hatte von der Leyen die militärische Ausrüstung der griechischen Grenzschützer gelobt und sie den "Schild" der EU genannt. Ungeachtet der Tatsache, dass die Einsatzkräfte brutal mit Tränengas und Gummigeschossen gegen Flüchtlinge auf der türkischen Seite der Grenze vorgingen.
Um wenigstens irgendetwas zu tun, verkündete nun die zuständige EU-Kommissarin, man werde Rückkehrwilligen 2000 Euro zahlen, wenn sie freiwillig die Lager auf den griechischen Inseln verlassen. Das gelte vor allem für Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen gekommen seien. Allerdings zeigt ein Blick in die Statistik der griechischen Regierung, dass die meisten Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan kommen. Bangladeschi, Pakistani und Angehörige anderer Nationalitäten spielen eine geringere Rolle.
Bei den Afghanen beträgt die Chance auf Anerkennung als Asylberechtigte derzeit etwa 50 Prozent. Aber das dürfte mit dem Abzug der US-Truppen steigen, wenn das Land erneut in die Hände der Taliban fällt. Bei den Syrern dagegen wird der Asylanspruch zu 100 Prozent anerkannt, für Iraker und Iraner ist er zumindest hoch. Wen unter diesen Menschen will die EU also mit dem Geld zur Rückkehr bewegen und wohin sollen sie gehen?
Es ist gegenwärtig nicht einmal sicher, dass sie in die Türkei zurückkönnen. Und die meisten dürften sowieso den Schleppern mehr gezahlt haben, um überhaupt bis nach Griechenland zu gelangen. Möchte die EU jetzt selbst in das Geschäft des Menschenhandels einsteigen?
Der Rechtsbruch als neue Normalität
Ob das griechische Militär Flüchtlingsboote in der Ägäis behindert oder die Flugüberwachung der EU mit der sogenannten nationalen libyschen Küstenwache zusammenarbeitet - solches "Refoulement", die pauschale Abweisung von Flüchtlingen ohne rechtliche Überprüfung, ist nach internationalen Regeln verboten. Aber sie wird längst betrieben und niemand interessiert sich dafür.
2012 erklärte der Internationale Gerichtshof für Menschenrechte die pauschale Abschiebung einer Gruppe von Flüchtlingen durch die italienische Regierung als unrechtmäßig. "Flüchtlinge haben das Recht, Rechte zu haben", schrieben damals die hohen Richter. Aber die Europäer scheinen inzwischen wenig dabei zu finden, diesen Grundsatz beiseite zu wischen. Politische Not bricht Recht, so einfach funktioniert das inzwischen in Europa.