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Leben in der Schwebe

16. Dezember 2009

Ein Belgier lag 20 Jahre lang im Wachkoma, bis auffiel, dass es kein Koma war. Es ist schwer für Mediziner, Koma zu definieren, und die Heilungsprozesse sind ganz unterschiedlich. Es gibt nämlich viele Arten von Koma.

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Angelika Kusnik mit ihrem Sohn Steven, der sich im Wachkoma befindet (Foto: DW)
Angelika Kusnik mit Sohn Steven, der sich im Wachkoma befindetBild: DW

Behutsam streicht Angelika Kusnik ihrem Sohn über die Wangen, versucht ihn leise aus seinem täglichen Mittagsschlaf zu wecken. Ein Kinderzimmer mit knallgelben Wänden, Kuscheltiere überall, und doch ist hier alles ganz anders. Steven, der Junge mit den gegelten Haaren, liegt in einem elektrischen Pflegebett, kann weder sprechen, noch alleine gehen oder aufstehen. Seit 11 Jahren. So lange befindet sich der inzwischen 18 Jahre alte Teenager schon im Wachkoma. Ausgelöst wurde es durch einen Hirnschlag nach einer Operation an der Hauptschlagader. Aus dem gesunden und quirligen Jungen wurde ein Pflegefall.

Pflege zu Hause statt im Heim

"Ich wollte es einfach nicht wahrhaben", gesteht Angelika Kusnik. "Ich verstand die Ärzte nicht, fühlte mich hilflos und verloren". Der Anfangsschock ist inzwischen vorbei. Angelika Kusnik hat Schritt für Schritt die Ohmacht abgelegt, sich - notgedrungen - mit Komaforschung beschäftigt. Denn seit der Akutversorgung und einer zweijährigen Reha pflegt die 41 Jahre alte Berlinerin ihren schwerstbehinderten Sohn zu Hause.

Porträt von Angelika Kusnik (Foto: DW)
Angelika Kusnik arbeitet längst nicht mehr als Verkäuferin, sondern pflegt nur noch ihren SohnBild: DW

"Ich will ihn nicht aus seiner gewohnten Umgebung reißen", sagt sie. "Außerdem sind Heimplätze, gerade für Kinder im Wachkoma, selten und teuer". Die alleinerziehende Mutter gab für die Pflege des Sohnes ihren Job als Verkäuferin auf, lernte wie man Wunden verarztet, eine Magensonde anlegt. Trotzdem wirkt sie nicht gebrochen oder verbittert. "In so einer Situation merkt man erst, wie stark man sein kann, wenn man muss", wirft Angelika Kusnik mit einem nachdenklichen Lächeln ein.

Hirnströme trotz Verletzung

Die Großhirnrinde ihres Sohnes Steven wurde durch den Hirnschlag stark beschädigt; die Verbindungsbahnen zwischen den einzelnen Hirnarealen sind unterbrochen. Doch wenn man sich die EEG-Aufnahmen seines Gehirns anschaut, bemerkt man kleine Ausschläge. Das heißt, er hat immer noch elektrische Impulse, einen Gehirn-Stoffwechsel, und selbst die beschädigten Areale werden durchblutet.

"Das ist selbst im tiefen Koma der Fall", sagt Dr. Steffen Weber-Carstens. Er ist Anästhesist am Berliner Virchow-Klinikum und seit 13 Jahren Intensivmediziner. Er weiß, dass es nicht nur einen einzigen Komazustand gibt, sondern dass viele verschiedene Schattierungen existieren. "Es gibt das tiefe Koma, bei dem Patienten die Augen geschlossen haben und nicht auf äußere Reize reagieren." Im vegetativen Status seien zwar die Augen geöffnet, aber die Großhirnrinde so stark beschädigt, dass die Patienten weder sehen noch hören könnten. "Dann gibt es den Zustand des minimalen Bewusstseins", sagt Dr. Weber-Carstens. In diesem sei zum Beispiel Schmerzempfindung oder die Reaktion auf Töne möglich.

Fehldiagnose oder Regeneration?

Dr. Steffen Weber-Carstens vom Virchow-Klinikum in Berlin (Foto: DW)
Steffen Weber-Carstens beschäftigt sich seit über zehn Jahren mit KomapatientenBild: DW

"Doch die Übergänge sind fließend, ähneln sich von Außen sehr, was die Definition von Koma und die Diagnose sehr schwierig macht", wirft der Mediziner ein. So wie im Falle von Rom Houben. Der Belgier galt 23 Jahre lang als Wachkoma-Patient, bis durch eine Spezialuntersuchung herauskam, dass der Mann zwar gelähmt, aber bei Bewusstsein war. Eine so genannte funktionelle Kernspintomographie hatte gezeigt, dass große Teile seines Gehirns aktiv sind. Diese radiologische Untersuchung ermöglicht eine besonders hohe Bildauflösung und genaue Diagnose, doch das technische Equipment ist nicht in jedem Krankenhaus vorhanden. Deswegen wird sie auch nicht regelmäßig durchgeführt.

Dr. Weber-Carstens ist vorsichtig, wenn es um die Beurteilung des Falles geht. "Es kann sein, dass es von Anfang an eine Fehldiagnose gab", sagt er. "Oder Rom Houben war ein Komapatient mit einem minimalen Bewusstsein und sein Gehirn hat sich über die Jahre – unbemerkt – regeneriert." Untersuchungen von Komaforschern zeigen durchaus, dass beschädigte Nervenbahnen zwischen unterschiedlichen Hirnarealen wieder wachsen können. "Nervenzellen können sich zwar nicht erneuern, aber sie können aussprossen und über Synapsen, Anschluss an andere Nervenzellen bekommen", sagt Dr. Weber-Carstens. "Das ist ein sehr langsamer Prozess und häufig funktioniert es auch nicht komplett."

Langsamer Fortschritt

Der belgische Koma-Patient Rom Houben im Rollstuhl vor einem Computertouchscreen (Foto: AP)
Der Belgier Rom Houben Ende NovemberBild: AP

Dadurch ist eine vollständige Heilung bei Komapatienten eher die Ausnahme. Besonders die Entwicklung in den ersten Monaten ist entscheidend. Je weniger Hirngewebe zerstört wurde, desto wahrscheinlicher ist eine Verbesserung. Auch junge Patienten, und solche, deren Gehirn nicht zu lange vom Sauerstoff abgeschnitten war, haben bessere Chancen. "Was man von Außen stimulieren kann", so Dr. Weber-Carstens, "sind Funktionen wie Schlucken oder Greifen." Wie in Stevens Fall etwa. Anfangs musste er durch eine Magensonde ernährt werden, konnte sich nicht bewegen. Durch Reha-Aufenthalte und bewusstes Physio- und Logopädietraining, ist Steven nun in der Lage, selbst zu schlucken und den Kopf zu wenden.

"Das ist ein Riesenschritt für meinen Sohn", sagt Angelika Kusnik stolz. Sie freut sich über die kleinen Entwicklungen und ist trotzdem realistisch genug, sich nicht allzu große Hoffnungen zu machen. "Es wäre klasse, wenn er sich irgendwann mal deutlicher mitteilen könnte – sei es durch Laute oder durch Bewegungen." Noch macht sich Steven durch ein Brummen bemerkbar. Wie jetzt, als Angelika Kusnik ihn mit einem Deckenlifter in seinen Elektrorollstuhl hievt. In der Küche wartet das Mittagessen, Milchreis mit Apfelmus. Die Lieblingsspeise von Steven. Woran man das merkt? Nach dem ersten Löffel ziehen sich seine Mundwinkel nach oben. Es könnte ein Lächeln sein.

Autorin: Aygül Cizmecioglu

Redaktion: Marlis Schaum/Martin Muno