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Koalitionskrach in Österreich über EU-Naturschutzgesetz

20. Juni 2024

Ein "Ja" bei der EU in Luxemburg führte zu heftigen Ausschlägen bei der Regierungskoalition in Wien. Doch die österreichische Regierung macht weiter. Was "Wahlzuckerl" damit zu tun haben und wem es nutzen könnte.

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Österreichs Umweltministerin Leonore Gewessler schaut an der Kamera vorbei
Die österreichische Umweltministerin hat durch ihr Abstimmungsverhalten im EU-Rat eine Regierungskrise in Wien ausgelöstBild: Henrik Montgomery/TT News Agency/AFP/Getty Images

Mit einem höchst umstrittenen Naturschutzgesetz will die Europäische Union mindestens 20 Prozent ihrer Land- und Meeresgebiete wieder zu natürlichen Lebensräumen machen. Und dieses Ziel soll schon bald, nämlich bis 2030, erreicht werden. Bei der Abstimmung der EU-Umweltminister in Luxemburg war die österreichische Ressortchefin Leonore Gewessler das Zünglein an der Waage: Mit ihrer Zustimmung kann nun ein Renaturierungsgesetz umgesetzt werden, gegen das Landwirte und Konservative Sturm gelaufen sind - darunter auch Gewesslers Kabinettschef, Österreichs Kanzler Karl Nehammer.

Und während die Umweltministerin die Luxemburger Abstimmung als "Sieg für den Schutz unserer Lebensgrundlagen" feierte, sprach der Kanzler von einem "Rechtsbruch" seiner grünen Koalitionspartnerin, mit der er seit Dezember 2021 zusammen regiert. Im Vorfeld der Abstimmung hatte Nehammer der belgischen Ratspräsidentschaft erklärt, seine Ministerin sei nicht bevollmächtigt, diese Entscheidung zu treffen. Umweltministerin Gewessler betonte wiederum, sie habe sich die Entscheidung nicht leicht gemacht - und sie habe sich rechtlich gut abgesichert. 

Die konservative Österreichische Volkspartei (ÖVP), die den Kanzler stellt, befürchtet Einschränkungen in der Landwirtschaft durch das Gesetz. Das könne auch Auswirkungen auf die Lebensmittelproduktion haben. In Deutschland gibt es ähnliche Kritik, beispielsweise vom deutschen Bauernverband.

Kein "freies Spiel der Kräfte" zulassen

Noch am Abend nach der Abstimmung sprach Kanzler Nehammer von einem "krassen Fehlverhalten" der Grünen-Politikerin Gewessler. Dennoch werde er die Koalition nicht auflösen, weil das Land nicht im "Chaos" versinken solle. In seiner Begründung bezieht sich Nehammer auch auf das sogenannte "freie Spiel der Kräfte". Ein solches könne sich im Parlament entwickeln und den österreichischen Steuerzahler Milliarden kosten, führte der Bundeskanzler aus

Das "freie Spiel der Kräfte" ist laut Politikwissenschaftlerin Lore Hayek eine Situation, in der die Koalitionsdisziplin aufgehoben wird. Gesetze könnten dann mit wechselnden Mehrheiten verabschiedet werden. Eine solche Situation habe es beispielsweise im Jahr 2008 gegeben.

Eine Hand hält ein großes Stück getrockneten Torf, im Hintergrund ist ein Feuchtgebiet zu sehen
Die Renaturierung von Mooren ist ein zentrales Element des EU-NaturschutzgesetzesBild: Countrypixel/IMAGO

Damals seien wenige Tage vor der anstehenden Wahl eine Reihe von bürgerfreundlichen Gesetzen beschlossen worden. Dazu gehörten die Abschaffung von Studiengebühren, Mehrwertsteuersenkungen für bestimmte Produkte, Pensionsanhebungen und weitere Sozialleistungen. Was in Deutschland "Wahlgeschenke" genannt wird, heißt in Österreich auch "Wahlzuckerln". Diese Art von Gesetzen hätten den österreichischen Steuerzahler laut Bundeskanzler Nehammer bis heute 30 Milliarden Euro gekostet, sagt Hayek. Allein in diesem Jahr waren es laut Fiskalrat bereits 4,1 Milliarden Euro.

Nationalratswahlen stehen im September bevor

Gewesslers Abstimmungsverhalten im EU-Rat bleibt jedoch nicht folgenlos. Nehammer kündigte auf europäischer Ebene eine Nichtigkeitsklage an. Damit will der konservative Bundeskanzler wohl das Gesetz aufheben lassen. Eine Anzeige gegen seine eigene Ministerin ist laut österreichischen Medien bereits gestellt. Der Vorwurf lautet auf Amtsmissbrauch. 

Ein klassizistischer Brunnen vor dem Nationalratsgebäude in Wien, einem klassizistischen Gebäude. Darüber der Abendhimmel.
Das Nationalratsgebäude in WienBild: Digitalpress/Shotshop/imago images

Österreich wählt am 29. September ein neues Parlament. Dieser Termin stehe in jedem Fall fest, erläutert Hayek, Professorin für österreichische Politik an der Universität Innsbruck, im Gespräch mit der DW. Die Umfragen sehen die rechte und EU-kritische Freiheitliche Partei Österreich (FPÖ) bei den Wahlen mit fast 28 Prozentpunkten vorne. Erst nach den zweitplatzierten Sozialdemokraten folgt die Kanzlerpartei ÖVP mit knapp 21 Prozent auf Platz drei. Die Grünen kommen auf 8 Prozent.

Von den aktuellen Geschehnissen könne die FPÖ zwar profitieren, indem sie den "Streit und Zank" in der Regierung ausschlachte, sagt Politologin Hayek im DW-Gespräch. Aber die FPÖ habe sich ohnehin gegen die Regierung positioniert. Eigentlich seien die aktuellen Geschehnisse eine Gelegenheit, bei der sich auch mal andere Parteien in den Vordergrund stellen - und der FPÖ mit ihren klassischen Themen wie Asyl und Migration den Platz streitig machen könnten.

Nützlich für den bevorstehenden Wahlkampf?

Aus wahlkampftechnischer Sicht sei der Koalitionskrach für die Regierungspartner also gar nicht so schlecht, meint Politikwissenschaftlerin Hayek. Denn zum Ende einer Regierungsperiode müssten sich Parteien wieder voneinander abgrenzen und ihre Unterschiede herausarbeiten.

FPÖ-Chef Herbert Kickl mit Mikrofon in der Hand greift sich an die Brille, EU-Wahl-Spitzenkandidaten Harald Vilimsky streckt beide Arme in Siegerpose nach oben, im Hintergrund Unterstützer mit Wahlplakaten
FPÖ-Chef Herbert Kickl mit EU-Wahl-Spitzenkandidaten Harald Vilimsky bei einer EU-Wahlparty im Juni 2024. Derzeit führt die rechtspopulistische Partei die Umfragen für die Nationalratswahlen im September. Bild: Helmut Fohringer/APA/dpa/picture alliance

Für die Grünen, die sich nun mit ihrem Kernthema Umweltschutz positionieren konnten, sei dies "fast eine Art Befreiungsschlag" gewesen, erklärt die Politologin. Auch für die ÖVP käme es nicht ungelegen, denn innerhalb der Partei gebe es einigen Widerstand gegen die Koalition mit den Grünen.

Wie sich dieses Ereignis dann allerdings in Wählerstimmen niederschlage, so Hayek, liege letztlich auch daran, wie die Parteien es nun im Wahlkampf nutzen würden.

DW Mitarbeiterin Lucia Schulten
Lucia Schulten Korrespondentin in Brüssel