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Politik

Kindheit im Steinkohlerevier

18. Dezember 2018

Nach 200 Jahren schließt Deutschlands letzte Zeche. Der Bergbau hat wie kein anderer Industriezweig das Ruhrgebiet geprägt - die Städte, die Sprache, Kultur und Menschen. Bettina Stehkämper über ihre Kindheit im Revier.

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Schild Kohle ist Brot
Bild: picture alliance / blickwinkel/S. Ziese

Jeder glaubt zu wissen, wie es im Bergbaurevier ist. Rußgeschwängerte Luft, eine Landschaft wie eine Werkshalle. Kokereien, Zechen, Stahlwerke und Hochöfen. Dazwischen Autobahnen und mittendrin Menschen, die, wenn sie nicht mindestens Staublunge haben, wenigstens eine ungesunde Gesichtsfarbe passend zur tristen Kleidung tragen. Entweder trifft man sie mit einer Flasche Bier an der Trinkhalle (Kiosk) oder sie sind mit einem Fanschal zu einem Revierspiel des örtlichen Fußballvereins unterwegs.

Immerhin hat uns das ein bisschen Hochachtung verschafft. Wenn ich im Ausland sagte, ich komme aus Gelsenkirchen, dann kannte die Stadt keiner. Also habe ich mir angewöhnt, die Frage nach meiner Herkunft mit Schalke 04 zu beantworten. Von diesem Fußballclub hatten die meisten schon gehört.

Ja, natürlich ist das Revier von der Industrie geprägt, mancherorts verschandelt worden. Aber es ist nicht die Wahrnehmung und Wahrheit derjenigen, die dort leben oder dort groß geworden sind. Da geht es uns so, wie den Menschen in der ehemaligen DDR. Das herrschende Bild vom Osten und die eigene Lebenswirklichkeit passen oft nicht zusammen. Und ein für alle mal: Abends gehen wir nicht mit einer Grubenlampe zu Bett!

Zeche Prosper Haniel
Das Bergwerk Prosper Haniel ist das letzte aktive Steinkohle Bergwerk im RuhrgebietBild: picture alliance/dpa/O. Berg

 Wir erkennen uns alle an den Knien

Ich bin in einer Bergbausiedlung in Gelsenkirchen-Buer großgeworden. Fast jeder hat dort auf der Zeche gearbeitet, wie mein Vater oder auch schon meine Großväter. Jedes Haus hatte einen großen Garten und wir spielten immer dort, wo der jeweilige Vater auf Schicht war. Vier Stunden Schichten gab es im Bergbau bis zuletzt und das Familienleben musste sich danach richten. Als Kind fand ich es sehr beruhigend meinen Vater immer unter mir zu wissen. Wenn er uns sagte, er müsse heute nach Polsum, dann wussten wir, 1000 Meter unter uns läuft er gerade in diese Richtung. Achtzig Kilometer marschiert ein Bergmann in der Woche unter Tage, um zu seinem Arbeitsplatz zu kommen.

Wenn die Kohlelieferungen kamen, war das für uns ein Riesenfest. Dann lagen vor jedem Haus Berge davon und alle in der Straße, vom Kind bis zum Greis, schleppten die Kohle in die Keller. Der Rest auf dem Bürgersteig wurde zusammengefegt und auf die Gartenwege gestreut. Wer beim Rollschuhfahren oder Rennen fiel, hatte also immer schwarze Steinchen im Knie. Daran erkennen wir uns Bergarbeiterkinder noch bis heute.

Es war eine Kindheit in Sicherheit. Die Bergleute mit ihrer starken Gewerkschaft verdienten gut. Als Kinder wussten wir, wenn wir uns die Knochen brechen, dann kommen wir nebenan ins Krankenhaus Bergmannsheil. Einst gebaut, um die schweren Arbeitsunfälle im Bergbau zu versorgen, haben sich die Krankenhäuser um die Zechen herum zu Spezialisten für Unfälle aller Art entwickelt. Als Kind war das beruhigend zu wissen.

Schicht im Schacht


Das Revier war auch ein spezielles Biotop

Die Bergleute konnten günstig wohnen, die Frauen, die ihre Männer durch Staublunge verloren, durften mit der guten "Staublungenrente" rechnen und die Bergmannskleidung wurde immer hochwertiger. Sicherheit stand über allem. In allen Wohnungen hing die Heilige Barbara, die Schutzpatronin der Bergleute, auch bei uns. Über Lob für Arbeitgeber heute, die einem einen Obstteller hinstellen, hätte man vermutlich nur gelacht. Wenn eine Zeche schloss, fand man entweder Arbeit auf einer anderen oder wurde in den Ruhestand versetzt. Lohnverzicht, Kurzarbeit wurden in Kauf genommen, Hauptsache ins "Bergfreie“, also in die Arbeitslosigkeit fiel niemand.

Das gab auch uns Jugendlichen Sicherheit. Mitte der siebziger Jahre, das Zechensterben hatte schon längst begonnen, war mein Vater überzeugt, dass wir drei Kinder bei der Ruhrkohle-AG unterkommen könnten. Wir hatten aber zu seinem Leidwesen andere Pläne.

Das Revier war ein Biotop. Im "Helene-Weber-Haus", benannt nach der katholischen Frauenrechtlerin, konnten wir Kinder Musik-, Keramik- und Kochkurse besuchen. Der Kassierer der SPD sammelte die Partei-Beiträge noch persönlich ein und wusste deshalb immer, wo der Schuh drückte. Und wenn der Bergmann in Rente ging, dann vereinsamte er nicht, sondern war mit seinen Kumpel im Knappen (Traditionsverein) oder Taubenzüchterverein. So schön und angstfrei konnte man im Pott groß werden.

"Man tritt nie nach unten"

Aber noch viel stärker wurde die DNA von uns "Ruhrpöttlern" vom Umgang miteinander geprägt. Jetzt zum Ende des Steinkohlebergbaus ist viel die Rede vom Zusammenhalt. Dass man sich unter Tage aufeinander verlassen musste. Das zählte. Nicht wo man herkommt. Ja, das stimmt. Mein Vater hatte Kollegen aus Ungarn, Polen, der Türkei. Ihre Herkunft war nie ein Thema. Aufgefallen ist es nur, wenn sie Selbstgebrannten mitbrachten, den wir nicht kannten. Und wenn irgendwo auf der Welt ein Grubenunglück war, dann wurde auf der Zeche für die Hinterbliebenen gesammelt. Bergmann war Bergmann.

Gastarbeiter
Die ersten Tage als "Gastarbeiter": Unter Tage zählte nicht, wo man herkommtBild: privat


Im Flur meiner Großeltern hing eine vom Bundespräsidenten unterschriebene Verdiensturkunde. Als Kinder glaubten wir immer, der ehemalige Bundespräsident Theodor Heuss hätte sich bei unserem Opa persönlich bedankt. Dem Opa wäre es wohl egal gewesen. Beim großen Grubenunglück auf der Zeche Dahlbusch 1950 mit 42 toten Bergleuten gehörte er zur Grubenwehr. Tagelang barg er Tote, versuchte Verschüttete zu retten, setzte sein Leben aufs Spiel. Für uns war er ein Held. Für ihn war das selbstverständlich.

Das erste Spielzeug, dass meine Mutter mit vier Jahren erhielt, hatte ein russischer Zwangsarbeiter gebastelt. Ein aus Draht geflochtenes Körbchen. In der Zeche meines Großvaters waren viele russische Zwangsarbeiter eingesetzt. Sie mussten die härtesten Arbeit unter Tage verrichten, bekamen kaum zu essen, viele starben. Es war selbstverständlich, dass meine Großmutter in die Stullendose immer mehr für meinen Großvater einpackte, damit er das Brot mit ihnen teilen konnte. Andere machten es genauso.

Ein Mantra meiner Kindheit lautete: "Man tritt immer nur nach oben, nie nach unten". Das andere: "Sag Bescheid, wenn die Haare bluten". Das hieß nichts anderes, nimm dich nicht so wichtig und es gibt Schlimmeres als kleine Verletzungen. Als Kinder schauten wir dann nicht mehr auf das aufgeschürfte Knie, sondern erst angsterfüllt und dann erleichtert auf unsere Haare.

Für Arbeiterkinder ist hier kein Platz

Aus dem Reich der "Gleichheit und Brüderlichkeit" wurde ich herausgerissen, als ich auf ein von katholischen Schwestern geführtes Gymnasium am Rande des Ruhrgebietes kam. In der ersten Stunde wurden alle gefragt, was ihre Väter beruflich machen (nicht die Mütter). Ein Mädchen nach dem anderen antworte mit Arzt, Tierarzt, Sparkassenleiter. Als ich an der Reihe war, sagte ich nur "Bergmann". Es herrschte eine Stille, die ich damals nicht verstand. Mein Vater war Maschinenbauingenieur, aber nie im Leben hätte er sich als Diplomingenieur vorgestellt.
Warum sollte also ich es tun?

Nach der ersten schlechten Lateinnote, ließ die Direktorin meine Eltern kommen, um ihnen mitzuteilen, dass für Arbeiterkinder hier kein Platz sei. Bergmann zu sein, hatte bisher für mich etwas Ehrenhaftes. Jetzt sollte es etwas ehrenrühriges sein?

Im Bergbau konnte sich jeder weiterbilden, beruflich weiterkommen. Ich bin nicht damit großgeworden, dass es eine Bildungsdecke für uns gibt. Außerhalb meines Biotops wollte man diese für uns Arbeiterkinder aber einziehen. Diese Schule und ich wurden nie warm miteinander. Übrigens, die wenigsten Töchter der Ärzte und Sparkassenleiter haben später studiert.


Bettina Stehkämper und Oliver Jähnel unter Tage auf der Zeche Prosper-Haniel in Bottrop
Im Unterschied zum Kameramann wusste die Autorin, wie man die Grubenlampe anlegtBild: privat

Jetzt, zum Ende der Steinkohleproduktion in Deutschland, konnte ich beruflich eine der letzten Grubenfahrten mitmachen. Schon beim Anziehen der Grubenkleidung bekam ich ein wohliges Gefühl. Das blau-weiß gestreifte Grubenhemd, die blaue Feinrippunterwäsche, ich wusste, wie es sich anfühlt. Und als wir in 1200 Meter Tiefe mit der Dieselkatze (kleiner Zug) in den Streb (Kohle-Abbauraum) fuhren, erinnerte ich mich daran, dass ich als Kind schon unter Tage war. Wahrscheinlich am Wochenende und irgendjemand muss ein Auge zugedrückt haben, als mein Vater die Familie im Förderkorb mitnahm. Es roch vertraut, nach Zuhause und Kindheit. Als wir vor der schwarzschimmernden Kohlewand standen, hätte ich mir einen Liegestuhl gewünscht und einfach nur genossen.

Sollte ich meine Bergbaukindheit zu positiv geschildert haben, dann möge man mir verzeihen. Aber angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung, hier, in Europa, in der Welt, werden die Werte meiner Kindheit nicht kleiner. Werte wie Zusammenhalt, Verlass, Kompromissfähigkeit und sich selbst nicht so wichtig nehmen.