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Kinder ohne Kindheit

Elezi Elona8. August 2014

Mehr als ein Drittel der albanischen Bevölkerung sind Kinder, viele leben auf der Straße. Unterstützung bekommen sie von nationalen und internationalen Hilfsorganisationen. Was der Staat tut, reicht vielen nicht aus.

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Bettelndes Kind an einem Auto (Foto: Franc Zhurda)
Wieviele Straßenkinder in Albanien leben, ist bislang nicht erfasstBild: Franc Zhurda

Obwohl er erschöpft ist, strahlen die Augen des zehnjährigen A.J. In seinen rau gewordenen kleinen Händen trägt er eine Kartonkiste voller Zigarettenschachteln und Kaugummis. Die Hitze ist unerträglich, trotzdem scheut er keine Mühe, seine Ware den Passanten auf einer belebten Straße im Herzen von Albaniens Hauptstadt Tirana anzubieten. Nach anfänglichem Zögern erzählt er, er sei das älteste Kind einer sechsköpfigen Familie aus der Stadt Kukës im Nordosten des Landes. Es ist eine der Regionen mit der höchsten Arbeitslosenquote in Albanien, deshalb zog A.J. mit seinen Eltern und Geschwistern wie viele andere Familien in die Hauptstadt in der Hoffnung auf ein besseres Leben.

Dieser Traum ist schnell geplatzt: Die Eltern versuchen sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten. Meistens aber kommen sie mit leeren Händen nach Hause, erzählt A.J. Seine drei kleineren Geschwister sind den ganzen Tag alleine, zur Schule gehen sie selten.

Kinder wie A.J. prägen das Straßenbild in den Großstädten Albaniens. Sie sind die Leidtragenden der weit verbreiteten sozialen Unsicherheit in einem der ärmsten Länder Europas. Dabei machen Kinder über ein Drittel der albanischen Bevölkerung aus. Mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes fielen auch viele traditionelle Familienstrukturen auseinander. Kinder und Jugendliche aus ärmeren Verhältnissen leiden am meisten unter Vernachlässigung und Verwahrlosung. Die Gefahr, dass sie Opfer von physischer und psychischer Gewalt werden, ist groß. Vor allem die Straßenkinder haben nur einen begrenzten Zugang zu Bildung oder zu Gesundheitsleistungen.

Bettlerin am Straßenrand am Boden sitzend (Foto: Franc Zhurda)
Betteln scheint für viele die einzige Möglichkeit zu sein, ein wenig Geld zu bekommenBild: Franc Zhurda

Es fehlen Daten

Wieviele Straßenkinder in Albanien leben, ist offiziell nicht bekannt. Das Fehlen eines Datensystems, das Kinder in "Straßensituationen" erfasst, sei das größte Problem in Albanien, sagt Zini Kore, Leiter der gemeinnützigen Kinderhilfsorganisation ARSIS. Seine Organisation arbeitet mit Unterstützung des UN-Kinderhilfswerks UNICEF zurzeit an einem solchen Datensystem.

ARSIS versucht schon jetzt die Rahmenbedingungen für Straßenkinder zu verbessern. In ihren Tageszentren, aber auch auf der Straße betreut die Organisation sowohl Kinder als auch deren Eltern. "Dabei reicht das Angebot von hygienischen Diensten und Essensausgabe bis hin zur psychologischen Beratung und Erziehungshilfen", so Kore. Ähnliche Betreuungen bietet seit 1999 auch die Hilfsorganisation "Save the Children" an.

Mangelnde Fachkompetenz

2011 veröffentlichte "Save the Children" einen ausführlichen Bericht zur Situation der Straßenkinder in Albanien und das staatliche Engagement. Darin bemängeln die Autoren, dass bestehende Gesetze teilweise nicht weit genug gehen oder nicht richtig umgesetzt werden. So kritisiert "Save the Children" unter anderem den erschwerten Zugang zu finanzieller staatlicher Unterstützung. Außerdem fehle eine klare Regelung, wer die Befugnis hat, auf die Situation eines Kindes aufmerksam zu machen und es von der Straße wegzubringen. "Wir wissen immer noch nicht, wer die Verantwortung hat, in diesen Fällen einzugreifen", so Nertilla Topulli, Leiterin eines Tageszentrums der Hilfsorganisation in Tirana.

Nertilla Topulli in ihrem Büro (Foto: Franc Zhurda)
Nertilla Topulli von "Save the Children" fehlen eindeutige GesetzeBild: Franc Zhurda

Vor zwei Jahren gründete die albanische Regierung die "Agentur für den Schutz der Kinderrechte". Sie soll landesweit 400 Kinderschutzstellen einrichten und koordinieren. Bislang gibt es 152 solcher Stellen. Agentur-Direktorin Miranda Pashaj ist von der Arbeit ihrer Mitarbeiter überzeugt: "Diese Personen können keine Wunder vollbringen, aber sie können alle zuständigen Akteure vor Ort zusammenbringen."

"Save the Children" sieht die staatlichen Aktivitäten kritisch. Die Anzahl und die finanzielle Ausstattung dieser Einrichtungen sei unzureichend, bemängelt der Bericht der Hilfsorganisation. Kritik kommt auch vom Verband "Gemeinsam für das Wohl der Kinder", einem Zusammenschluss von rund 30 albanischen Nichtregierungsorganisationen. Seine Koordinatorin Danjela Shkalla sagte der Deutschen Welle, den Mitarbeitern der staatlichen Kinderschutzstellen fehlte oft die im Gesetz vorgeschriebene Qualifikation. "Wir kennen Fälle, wo Mitarbeiter gar keinen Hochschulabschluss haben, aber sie sind da, weil sie den Bürgermeister kennen oder den Vorsitzenden der Gemeinde, und sie denken nicht daran, dass der Schutz der Kinder ein wichtiges Problem ist", so Shkalla.

Danjela Shkalla (Foto: Franc Zhurda)
Danjela Shkalla koordiniert 30 NichtregierungsorganisationenBild: Franc Zhurda

Die Perspektive bleibt ungewiss

Auf der Straße in Tiranas Innenstadt scheint keiner der Passanten etwas vom zehnjährigen A.J. kaufen zu wollen. Wenn er nichts verkauft, zwingt der Hunger das Kind dazu, eine der Tagesstätten für Straßenkinder aufzusuchen. Er gehe aber ungerne dorthin. Auf die Frage, was für ihn besser wäre, antwortet A.J. nur mit einem Achselzucken. Er wirkt wie ein Erwachsener, wenn er gesteht, dass ohne seinen Einsatz als Straßenverkäufer die Familie an bestimmten Tagen nicht einmal ein Stück Brot kaufen könne. Er will nicht mehr weiter sprechen und geht fort. Mit der Kartonkiste voller Zigarettenschachteln und Kaugummis in den Händen läuft A.J. durch die Menschenmenge - ohne die Hoffnung aufzugeben, dass doch jemand etwas kaufen wird.