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Kein Heimweh, aber Sehnsucht

Friederike Seeger20. Februar 2014

Ariel Kligman kam 1992 als sogenannter jüdischer Kontingentflüchtling aus der Ukraine nach Deutschland. Über eine erfolgreiche Integration oder ihr Scheitern entscheiden manchmal Zufälle.

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Ariel Kligman (Foto: Friederike Seeger)
Ariel Kligman lebt seit August 1992 in DeutschlandBild: Friederike Seeger

Ein solcher Zufall veränderte auch das Leben von Ariel Kligman. In einer ukrainischen Zeitung stieß er auf einen Artikel: Kurz und knapp wurde dort mitgeteilt, dass Juden aus dem Gebiet der damals noch existierenden Sowjetunion nach Deutschland ausreisen dürfen. Das war Anfang 1991: Die Sowjetunion stand vor dem Zerfall, der Übergang vom Kommunismus in die Nach-Wende-Zeit hatte zum Teil anarchische Züge angenommen. Und plötzlich waren die Juden mit zunehmender Diskriminierung, Willkür und Verfolgung konfrontiert. Für Ariel Kligman stand schnell fest: Nichts wie raus aus der Ukraine! Doch erst im August 1992 wurde aus der Ausreise für ihn und seine Familie Realität.

Insgesamt kamen zwischen 1991 und 2004 rund 220.000 Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion in die Bundesrepublik. Für ihre Aufnahme war die sogenannte fünfte Zeile im Pass entscheidend. Dort wurde vermerkt, welcher Ethnie die jeweilige Person angehört. In der Sowjetunion galt jüdisch nämlich nicht als Religion, sondern als Volkszugehörigkeit. Stand also das Wort "jüdisch" im Pass, war die Aufnahme in das Flüchtlingskontingent gesichert, und damit Deutschland zum Greifen nah.

Kontigentflüchtlinge mit großen Taschen (Foto: dpa)
Ankunft von Kontingentflüchtlingen in BerlinBild: picture alliance/ZB

Neuanfang bei Null

Ariel Kligman erinnert sich noch genau an seine Ankunft in Deutschland, katastrophal sei das gewesen: "Niemand hat gewusst, was mit uns geschehen soll, und ich war geschockt über die Unterkunft." Vier Betten, ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen – mehr passte nicht rein in das winzige Zimmer mit der grünen Eisentür. Neun Monate verbrachten er und seine Familie in dieser Zelle in einem Asylbewerberheim in der Münchner Innenstadt.

Der heute 66-jährige Ariel Kligman erlebte, was es heißt, plötzlich mit leeren Händen dazustehen - wie viele andere Asylbewerber in Deutschland auch. Mit einer Ausnahme: Als Kontingentflüchtling hatte er eine unbegrenzte Aufenthaltsgenehmigung und durfte von Anfang an Deutsch lernen. "Ich habe sehr brav angefangen, und habe in einer Schule gelernt, später dann in einer Hochschule." Ein ganzes Jahr ging das so, jeden Tag büffelte er die deutsche Grammatik, konjugierte Verben und lernte neue Wörter dazu. Geld verdiente er damit nicht, auch sein russischer Hochschulabschluss als Toningenieur wurde nicht anerkannt. Selbst die Kontakte aus seiner Heimat brachten ihm in Deutschland erst einmal wenig. "Das war das Problem: Ich konnte nichts, ich war absolut am Ende."

Aber Ariel Kligman blieb hartnäckig. Über einen Freund in der Ukraine gelang es ihm, einen Job zu finden und sich eine neue Existenz aufzubauen. Nur ein paar Jahre nach seiner Ankunft in Deutschland arbeitete er als Manager in einer Firma, baute Geschäftskontakte nach Russland und in die ehemalige Sowjetrepubliken auf. Seine Herkunft wurde zum Türöffner, und Ariel Kligman lebte plötzlich in zwei Welten. Mit Kollegen und deutschen Geschäftspartnern sprach er Deutsch, mit den Kunden in Osteuropa Russisch. Und auch mit seiner Familie unterhält sich der Ruheständler noch heute auf Russisch. Plötzlich verfinstert sich sein Blick: "Ich habe mich verändert, und nicht nur zum Guten." In der Ukraine sei zum Beispiel die Gemeinschaft viel wichtiger gewesen. "Unsere Tür zuhause war eigentlich immer offen. Es war kein Problem jemanden um 21 Uhr anzurufen und dann zu besuchen."

Synagoge am St.-Jakobsplatz in München (Foto: Friederike Seeger)
Die Synagoge ist der Mittelpunkt der Israelitischen Kultusgemeinde in MünchenBild: Friederike Seeger

Heimat in der jüdischen Gemeinde

In Deutschland musste er lernen, dass unter Gemeinschaft und Gastfreundschaft etwas anderes verstanden wird als in der Ukraine. Lud er seinen Chef zum Abendessen ein, bedankte sich dieser zwar, eine Gegeneinladung blieb trotzdem aus. Schnell fügt er hinzu: "Das ist nur etwas, was mir aufgefallen ist. Ich bin trotzdem dankbar hier zu sein." Obwohl er sich selbst nicht als praktizierenden Juden bezeichnet, ist er im Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde in München. Auch das geschah ein bisschen aus Dankbarkeit. Denn die Gemeinde half als erste, als es seiner Mutter immer schlechter ging, organisierte einen Platz im Seniorenheim und kümmerte sich um die Familie - ganz so, wie es in der Ukraine die Nachbarn und Familien tun. Heimat und Angenommen sein wurde für ihn damit auch in der jüdischen Gemeinschaft spürbar.

Hat er manchmal Heimweh nach seinem alten Leben? "Nein, das habe ich nicht, habe ich nie gehabt!", dann blickt er kurz nach oben und schüttelt den Kopf. Seine Augen leuchten kurz auf, als er dann entschieden sagt: "aber Sehnsucht."