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PolitikEuropa

Kasachstan: Ausnahmezustand aufgehoben

Anatolij Weißkopf
19. Januar 2022

Nach den Unruhen von Anfang Januar ist in Kasachstan wieder Ruhe eingekehrt. Während des Ausnahmezustands soll es jedoch mehrfach zu illegalen Festnahmen und Durchsuchungen gekommen sein.

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Kasachstan Almaty Sicherheitskräfte
Kasachisches Militär kontrolliert die Straßen in AlmatyBild: Pavel Pavlov/AA/picture alliance

Die meisten eher entlegenen Gebiete Kasachstans waren bereits am 12. Januar wieder zur Normalität zurückgekehrt. Nun wurde auch in den größeren kasachischen Städten der von Präsident Kassym-Schomart Tokajew am 5. Januar landesweit verhängte Ausnahmezustand wieder aufgehoben. 

Am längsten mussten die Menschen in der kasachischen Hauptstadt Nur-Sultan sowie in Almaty warten, wo die Proteste Anfang Januar begonnen hatten. Gerade dort war es zu blutigen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei sowie zu Plünderungen gekommen.

Verbreitete Unzufriedenheit mit Polizei

Doch auch in Kasachstans größter Stadt Almaty, in deren Großraum fast drei Millionen Menschen leben, hatte sich die Lage bereits seit einer Woche wieder beruhigt. Der öffentliche Nahverkehr lief wieder, Einkaufszentren und Banken waren geöffnet. Auch Telefon und Internet funktionieren längst wieder.

Proteste in Kasachstan | TV-Ansprache Präsident Toqajew
Seit fast drei Jahren im Amt: Präsident Kassym-Schomart Tokajew bei einer FernsehanspracheBild: Kazakhstan's Presidential Press Service/AP/dpa/picture alliance

Dennoch ist ein großer Teil der Bevölkerung von Almaty heute sehr unzufrieden mit dem Vorgehen der Regierung während des Ausnahmezustands, vor allem in den Tagen, nachdem die Ordnung in der Stadt weitgehend wiederhergestellt war. Die sozialen Netzwerke sind voller Berichte von Bürgern, die über ihre Erfahrungen schreiben.

"Am häufigsten gab es Handykontrollen durch Angehörige der Nationalgarde und der Streifenpolizei, obwohl dies auch während des Ausnahmezustands illegal war", erklärt der bekannte kasachische Anwalt Jokhar Utebekov gegenüber der DW. "Erlaubt war nur, Personen und ihre Autos zu durchsuchen, um Waffen und gestohlenes Eigentum sicherzustellen. Es gab viele Verstöße, darunter auch ungerechtfertigte Festnahmen und Inhaftierungen", so Utebekov.

Seinen Beobachtungen zufolge gingen die Strafverfolgungsbehörden völlig willkürlich vor, da sie nicht mehr von der Staatsanwaltschaft kontrolliert wurden. Weder Staatsanwälte noch Richter hätten auf Hinweise über Folter und andere Gesetzesverstöße aus der Bevölkerung reagiert.

Illegale Festnahmen und Handy-Durchsuchungen

Schockiert über das, was nach der Verhängung des Ausnahmezustands geschah, ist auch ein anderer bekannter kasachischer Jurist. Zhangeldy Sulejmanow zufolge ist es zwar weltweit üblich, restriktive Maßnahmen zu ergreifen, wenn die verfassungsmäßige Ordnung eines Landes oder das Leben der Bürger bedroht sind. "Aber gleichzeitig muss auch in einem Ausnahmezustand geltendes Recht befolgt werden. Die Praxis hat jedoch bei uns gezeigt, dass es Auswüchse gab. Berichte erzählen von illegalen Überprüfungen und Festnahmen ohne richterliche Genehmigung", sagte Sulejmanow der DW. Er fügte hinzu, es seien viele Fälle bekannt, bei denen Menschen bei der Polizei geschlagen und gefoltert worden seien. "Der Ausnahmezustand ermöglichte es einzelnen Behördenvertretern, gesetzeswidrige Taten zu begehen, was dem Ansehen der Behörden schadet", so der Anwalt.

Da viele Bürger in Almaty und in anderen kasachischen Städten sich weiterhin in sozialen Netzwerken über das Verhalten von Behördenvertretern beschweren, wurde bis zuletzt befürchtet, die Regierung könne den Ausnahmezustand in Almaty und bestimmten Teilen des Landes verlängern.

Zweifel an den Angaben der Behörden

Unmut herrscht auch über die von den Behörden herausgegebenen offiziellen Zahlen zu den Unruhen der vergangenen Wochen: Demnach seien bei den Zusammenstößen Anfang Januar allein in Almaty 149 Zivilisten und elf Polizisten getötet worden. Landesweit soll es 225 Tote gegeben haben, davon 19 Sicherheitsbeamte.

Kasachstan Almaty ausgebranntes Militärfahrzeug
Nach den blutigen Zusammenstößen in Almaty haben die Aufräumarbeiten begonnenBild: Vladimir Tretyakov/NUR.KZ/AP/picture alliance

Viele Bürger bezweifeln auch die Zahlen der Generalstaatsanwaltschaft, wonach mehr als 4500 Personen verletzt worden sein sollen. Es gibt Stimmen, die von viel höheren Opferzahlen ausgehen. Unterdessen wird in den sozialen Netzwerken aufgerufen, nach Aufhebung des Ausnahmezustands eine friedliche Kundgebung in Almaty zu organisieren. Dabei sollen die Behörden aufgerufen werden, der Bevölkerung die Wahrheit über die Ereignisse von Anfang Januar zu sagen.

Warnungen der Polizei an die Bevölkerung

Auf die Aufrufe reagierten die Behörden umgehend. Am Abend des 18. Januar wurde über die Medien und sozialen Netzwerke eine Warnung des Leiters der regionalen Polizeibehörde von Almaty, Serik Kudebajew, verbreitet. Darin heißt es, in der Region bestehe Terrorgefahr und es gelte weiterhin Warnstufe "Rot". Die Polizei der Stadt Almaty bitte die Einwohner um Verständnis, falls sie persönlich oder ihre Autos durchsucht werden sollten. Auch den vorübergehend eingerichteten Kontrollpunkten und den Bewegungsbeschränkungen in bestimmten Stadtteilen sollen sie mit Verständnis begegnen.

Ferner wurde eine "vorbeugende Operation" mit der Bezeichnung "Recht und Ordnung" ab dem 19. Januar angekündigt, mit dem Hinweis, die Behörden würden gegen jeden organisierten Protest vorgehen. Kudebajew betonte, die Organisatoren möglicher Kundgebungen hätten die Behörden nicht vorab informiert: "Dementsprechend ist die Organisation und Teilnahme an friedlichen Versammlungen, die unter Verstoß gegen das Gesetz abgehalten werden, illegal." Der Polizeichef der Region Almaty fügte hinzu, sollten die Proteste den Bürgern, der Gesellschaft und dem Staat schaden, würden gegen die Verantwortlichen Strafverfahren eingeleitet.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk