Diplomatie eines Neuanfangs?
7. Juni 2022Belgien versucht, mit einem der dunkelsten Kapitel seiner Geschichte abzuschließen: In einer Zeremonie in Brüssel sollen die sterblichen Überreste von Patrice Lumumba, dem ersten Premierminister der heutigen Demokratischen Republik Kongo, am 20. Juni an seine Familie und sein Land zurückgegeben werden. Aber das Einzige, was von dem jungen Freiheitshelden Lumumba übrig geblieben ist, ist ein Goldzahn - der wurde ihm nach seiner Ermordung vor über 60 Jahren als Trophäe aus dem Mund gerissen.
Trauer um einen Nationalhelden ermöglichen
Inwieweit kann ein Zahn die Kongolesen mit den schweren Wunden der brutalen Herrschaft König Leopolds II. und der belgischen Kolonialmacht (1885 bis 1960) versöhnen? Ein Staatsbesuch des Königspaares Philippe und Mathilde vom 7. bis 13. Juni im Kongo leitet zunächst einen politischen Schritt zur Auseinandersetzung mit den Gräueltaten der Vergangenheit ein. Die späte Rückgabe des Zahnes soll es den Kongolesen endlich ermöglichen, offiziell um ihren Nationalhelden zu trauern und ihm zu Ehren ein Denkmal in der Hauptstadt Kinshasa zu errichten.
Der Besuch des belgischen Königs auf Einladung des seit 2019 amtierenden kongolesischen Präsidenten Félix Tshisekedi könnte einen frischen Start für bessere Beziehungen beider Länder bedeuten, sagt Georges Kasongo Kalumba, Professor für politische Soziologie an der Universität von Lubumbashi. Der Besuch stelle in mehrfacher Hinsicht ein Novum dar, sagt Kalumba im DW-Interview. König Philippe stamme nicht aus der Generation der Könige, die die belgische Kolonialisierung des Kongo erlebt haben. Und er besuche den Kongo im Anschluss an einen demokratischen Wechsel, sofern man diesen überhaupt als "demokratisch" bezeichnen könne, so Kalumba weiter.
Die Wahlen waren von zahlreichen Unregelmäßigkeiten geprägt, ihreRechtmäßigkeit wurde im In- und Ausland angezweifelt. Doch die Wahlen galten trotzdem als ein wichtiges Zeichen, denn zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit des Landes kam es zu einem friedlichen Machtwechsel.
Hoffnung auf bessere Beziehungen
"Die Beziehungen zwischen Belgien und dem Kongo sind von den Altlasten befreit, denn wir haben Staatsoberhäupter, die einer anderen Generation angehören. Sie haben die turbulenten Probleme, die die politische Geschichte beider Länder geprägt haben, nicht erlebt. Wir befinden uns also in einer Art Neuanfang mit Führungspersönlichkeiten, die keine Hemmungen und nur wenig mit der Vergangenheit zu tun haben", sagt der Soziologe.
Es ist der erste Besuch des 2013 gekrönten Regenten Philippe. Premierminister Alexander De Croo begleitet das Königspaar. Dieser Besuch war zunächst für 2020 geplant, aber wegen der Coronapandemie immer wieder verschoben worden. Versöhnliche Töne hatte König Philippe allerdings schon 2020 angeschlagen, als er in einem Brief sein "tiefstes Bedauern" über die Verbrechen während der Kolonialherrschaft ausgedrückt hatte.
Das Einlenken des Königs bezeichnet Kalumba als "großen Durchbruch": Zum ersten Mal habe ein belgischer König die Geschehnisse bedauert, insbesondere auch die vermeintliche oder tatsächliche Rolle Belgiens bei der Beseitigung Lumumbas. Ein großer Teil der Ressentiments sei ausgeräumt.
Der damals als Volksheld gefeierte Patrice Lumumba war 1961 im Alter von 35 Jahren nach einem von westlichen Mächten unterstützten Militärputsch entführt, gefoltert und ermordet worden - mit Unterstützung Belgiens und des amerikanischen Geheimdienstes CIA. Seine in Säure aufgelöste Leiche wurde nie gefunden. Seinen Goldzahn hatte ein belgischer Polizist, der an der Beseitigung der Überreste beteiligt war, offenbar als Trophäe aufbewahrt. Nach einer Intervention von Lumumbas Tochter wurde der Zahn der belgischen Regierung übergeben, die sich bis vor Kurzem weigerte, ihn seinen Nachkommen zu überlassen.
"Für uns Afrikaner begann die Trauer vor etwa 60 Jahren", sagte Roland Lumumba, Sohn von Patrice Lumumba, dem Nachrichtenmagazin Politico. "Mit der Rückkehr eines Teils von ihm, von seinem Körper, können wir mit der Trauer abschließen und weitermachen. Das ist eine Erleichterung für uns."
Vorteile für politische Eliten?
Anführer des Staatsstreichs gegen Lumumba war damals Joseph-Désiré Mobutu, der spätere Präsident Mobutu Sese Seko. Mobutu agierte mit Unterstützung der USA. Im Gegensatz zu seinem einstigen Freund Lumumba garantierte er den Amerikanern, er werde dem Westen die Treue halten. Dabei blieb er - und nutzte den von Washington eingeräumten Freiraum dazu aus, ein kleptokratisches System zu errichten, das in Afrika kaum Parallelen hat. Heute ist das Land von mehreren Bürgerkriegen gezeichnet und von einer fortwährenden politischen Krise gelähmt, im Ostkongo halten die bewaffneten Konflikte an.
Die kongolesische Regierung bestehe auch heute noch aus politischen Eliten, die opportunistisch handelten, so Kalumba. Onesphore Sematumba, Kongo-Analyst bei der International Crisis Group, geht noch weiter und bezeichnet den Königsbesuch als einen "gelungenen diplomatischen Schachzug" seitens der kongolesischen Regierung. "Dieser Besuch hat eine wesentliche politische Bedeutung für den Präsidenten, der unter umstrittenen Umständen an die Macht gekommen ist, aber nach und nach seine Legitimität auf internationaler Ebene aufgebaut hat" - insbesondere durch das Weben eines diplomatischen Netzes, sagt Sematumba im DW-Interview.
Diplomatie des Zahns
Die Bemühungen Tshisekedis würden durch den Besuch des belgischen Königs gekrönt. "Es ist also ein unbestreitbarer diplomatischer Erfolg, ein Glücksfall im Vorwahljahr", so Sematumba weiter. Und der König komme nicht allein. Er reise mit einer großen Delegation von Unternehmern, denn er wolle wieder Fuß fassen in seinem "ehemaligen Vorgarten", so Sematumba. Damit habe dieser Besuch auch eine eindeutige wirtschaftliche Bedeutung.
Die einzige Reliquie des ermordeten Premierministers Lumumba werde für politische Zwecke genutzt. "Es ist eine Möglichkeit, die dieser Familie geboten wird, um sich endlich aus der Trauer zu lösen. Aber diese Diplomatie des Zahns wird nur eine Anekdote bleiben", glaubt Sematumba.
Mitarbeit: Wendy Bashi, Kinshasa
Korrektur am 21.06.2022: In einer früheren Version dieses Artikels wurde die Herrschaft König Leopolds II. und der Kolonialmacht Belgien im Kongo falsch datiert. Außerdem wurde das Jahr der Wahl Félix Tshisekedis falsch angegeben. Die Redaktion bittet, die Fehler zu entschuldigen.