Interkulturell inkompetent
23. Juni 2011Eine hitzige Diskussion an der Universität Würzburg: Die im Seminarraum versammelten Studenten sollen in Arbeitsgruppen Werte wie Toleranz, Hilfsbereitschaft und Ehrlichkeit nach ihrer Wichtigkeit sortieren. Ist "Selbstständigkeit" nicht das gleiche wie "Unabhängigkeit"? Und welchen Sinn hat "Chancengleichheit" ohne "gute Schulausbildung"? Die Meinungen prallen aufeinander.
Der Workshop ist Teil eines Projektes, das den Studenten interkulturelle Kompetenz vermitteln soll - denn die, so die Überzeugung an der Universität, gewinnt in einer globalisierten Welt eine immer größere Bedeutung. Dass sich die juristische Fakultät federführend daran beteiligt, sei kein Zufall, erklärt der Projektleiter Eric Hilgendorf, sondern spiegele die Realität an deutschen Gerichten wider. "Die auftretenden Fälle sind mehr und mehr interkulturell bestimmt", sagt der Professor für Strafrecht. "Leider wird dieses Phänomen in der Juristenausbildung bisher nicht hinreichend aufgegriffen."
Auf der bürgerlichen Insel
Zum Teil geht es in Würzburg um ganz grundlegende Fragen – so auch in der leidenschaftlichen Diskussion über Wertvorstellungen. "Das wichtigste Ziel war, dass die Teilnehmer merken, dass jeder unterschiedliche Werte hat und dass sich das nicht generalisieren lässt", erklärt die Jura-Dozentin Maria Luisa Mariscal-Melgar. Dass das keineswegs nur universitärer Firlefanz ist, zeigt ein Blick in die Praxis.
Juristen würden auf den interkulturellen Alltag am Gericht nicht vorbereitet, sagt etwa Meike Shaikh-Achtermeyer, Familienrichterin am Amtsgericht Königswinter: "Vielen von uns dürfte die Problematik noch nicht einmal bewusst sein." Verstärkt werde das noch dadurch, dass Juristen häufig aus Kreisen ohne jeden Kontakt zu Menschen mit Migrationshintergrund stammten. Wenn man dann mit Ende Zwanzig als Richter anfange, so die Beobachtung der Richterin, folge oft der Praxisschock. Dann ist es hilfreich, wenn die jungen Richter zumindest schon einmal darüber nachgedacht haben, dass Werte relativ sind.
Für Meike Shaikh-Achtermeyer gehört diese Erfahrung zum Alltag. Da sitzt ihr schon einmal ein Vater gegenüber, der mit dem schlichten Argument "Söhne gehören zu den Vätern" das Sorgerecht einfordert oder eine scheidungswillige Ehefrau, die zu ihrem Mann sagt: "Du darfst mich nur dann schlagen, wenn ich etwas Falsches gemacht habe." Nachvollziehen kann die Richterin solche Argumente nicht – versuchen will sie es trotzdem. Denn gerade im Familienrecht, wo es um Scheidungen, Kinderbetreuung und andere sehr private Fragen geht, komme es darauf an, beide Seiten mit einzubeziehen und davon zu überzeugen, das Urteil zu akzeptieren und vor allem auch umzusetzen. "Sie können als Richterin natürlich auch sagen: Das ist mir egal, ich haue denen nach zehn Minuten Sitzung ein Urteil um die Ohren", sagt Shaikh-Achtermeyer. "Aber damit hinterlassen Sie vielleicht verbrannte Erde."
Doch die multikulturelle Gesellschaft verändert nicht nur den Ablauf von Verfahren, sondern auch ihre Inhalte. So galt das Beleidigungsstrafrecht noch vor einigen Jahren als überholt; seine Abschaffung wurde diskutiert. Inzwischen hat sich jedoch gezeigt, dass der Ehrbegriff in einigen Einwanderergruppen noch eine große Rolle spielt - und sie deshalb vor Beleidigungen geschützt werden müssen.
Zudem tauchen Fragen auf, mit denen Juristen sich früher nicht befassen mussten: Darf eine Lehrerin trotz Trennung von Staat und Kirche mit Kopftuch unterrichten? Muss ein muslimischer Supermarktangestellter Alkoholregale einräumen?
Bei der interkulturellen Bildung an der Uni Würzburg steht die Arbeit mit konkreten Fällen im Mittelpunkt. "Wir lösen die erst einmal nach herkömmlichen, dogmatischen Regeln und stellen fest, dass hier Defizite auftreten", erklärt der Strafrechtler Eric Hilgendorf. "Dann versuchen wir, Lösungen zu finden, die besser geeignet sind, Rechtsfrieden herzustellen."
Eine Richterin als Korangelehrte
Hilgendorf erinnert an den Fall, in dem eine Frankfurter Richterin die vorzeitige Scheidung einer Frau von ihrem prügelnden Ehemann ablehnte, weil der Koran ein "Züchtigungsrecht" vorsehe – und beide Ehepartner ja schließlich aus dem marokkanischen Kulturkreis stammten. "Das ist ein drastisches Beispiel dafür, wie schlecht die Ausbildung der Juristen in dieser Hinsicht heute noch ist", sagt er.
Er ist zuversichtlich, dass seine Studenten mit solchen Fällen künftig besser umgehen können. Allerdings ist er schon jetzt überzeugt, dass sich Einwanderer bedenkenlos deutschen Gerichten stellen könnten – anders als noch in den 1960er und 1970er Jahren gebe es heute keine Diskriminierung mehr. Das Hauptproblem der Richter sei heute ein anderes: "Unverständnis, also eine mangelnde Sensibilität."
Autor: Dеnnis Stutе
Redaktion: Martin Schrader