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Junge Flüchtlinge sollen aufs Land

Sabine Kinkartz, Berlin/wl15. Juli 2015

Wie können Kinder und Jugendliche, die ohne Familie nach Deutschland geflohen sind, am besten versorgt werden? In bereits überforderten Städten auf jeden Fall nicht. Ein neues Gesetz verspricht Besserung.

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Bildergalerie Flüchtlingsunterbringung in Deutschland
Bild: picture-alliance/dpa/I. Fassbender

Minderjährige Flüchtlinge, die alleine nach Deutschland kommen, sollen künftig auf Jugendämter im gesamten Bundesgebiet verteilt werden. Das sieht ein Gesetzentwurf aus dem Haus von Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) vor, den das Kabinett in Berlin beschlossen hat. Bislang gab es diese Umverteilung nur für erwachsene Asylbewerber. Für Minderjährige ist sie bislang verboten, weil man den oftmals schwer traumatisierten Kindern nicht noch einen erzwungenen Ortswechsel zumuten wollte.

Knapp 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Mehr als die Hälfte davon sind Kinder und Jugendliche. Viele müssen damit leben, dass ihre Eltern auf der Flucht sterben, oder dass sie ihre Familien verlieren. Kinder steigen in Nordafrika in Boote, ihre Eltern bleiben am Strand zurück. Sicher nie freiwillig, aber oft fehlt das Geld, um die Überfahrt für alle bezahlen zu können. Oder die Schlepper trennen die Familien, um die Eltern finanziell unter Druck setzen zu können. Damit sie dann doch noch irgendwie das Geld für die eigene Überfahrt besorgen, um sich auf die Suche nach ihren Kindern zu machen.

Die meisten stranden im Kopfbahnhof München

Solche Horrorgeschichten hört Andreas Dexheimer in letzter Zeit immer häufiger. Für die Diakonie Jugendhilfe Oberbayern leitet er die Geschäftsstelle in München. Wie in Hamburg, Berlin oder Dortmund, so stranden auch in der bayerischen Landeshauptstadt immer mehr junge Flüchtlinge, die ohne Begleitung unterwegs sind. 2013 waren es 550. "Die konnten wir richtig gut versorgen", erinnert sich Dexheimer. Es gab ausreichend Plätze in betreuten Jugendwohngruppen, Kinderheimen und Pflegefamilien und genügend Schulplätze.

Bildergalerie Flüchtlingsunterbringung in Deutschland
Bild: imago/epd

2014 schoss die Zahl der unbegleiteten jungen Flüchtlinge, die in München ankamen, auf 2.500 hoch und München stieß an seine Grenzen. In diesem Jahr wird nun mit 10.000 Neuankömmlingen gerechnet. "Das übersteigt jedes vernünftige Maß, was eine Stadt wie München zu leisten vermag", klagt Dexheimer. "Es ist keine Frage des Geldes, sondern uns fehlen geeignete Immobilien, uns fehlen Sozialarbeiter, Dolmetscher, Psychologen, Erzieher und was wir sonst als Fachkräfte anstellen." Ab Herbst werde es noch nicht einmal mehr möglich sein, "dass jedes Kind innerhalb von drei Tagen einen Arzt sieht".

Acht Jahre und mutterseelenallein

Die Flüchtlinge werden zudem immer jünger. Waren es vor zwei Jahren in der Regel noch 15 bis 17-jährige, die ohne Eltern und Familie unterwegs waren, so sind sie inzwischen mehrheitlich 13 bis 14 Jahre alt. "Sagen sie", fügt Dexheimer hinzu, "wenn man in die Gesichter schaut, sieht man aber eher 10- bis 12-jährige." Sogar ein achtjähriger Flüchtling wurde kürzlich alleine in München aufgegriffen, er kam aus Eritrea.

Es sind vor allem die Eisenbahn-Drehkreuze, also Großstädte in Deutschland, in denen die meisten unbegleiteten Kinder und Jugendlichen stranden. Bundesweit sollen es in diesem Jahr 22.000 werden. Die jungen Flüchtlinge kommen nicht in Erstaufnahmelager, wie Erwachsene, sondern werden vom Staat, das heißt vom örtlichen Jugendamt in Obhut genommen. Bislang ist gesetzlich vorgeschrieben, dass die Minderjährigen dort bleiben können, wo sie ankommen und nicht noch einmal weiterreisen müssen. "Diese Idee ist eigentlich gut", sagt Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig, "aber sie funktioniert nicht mehr."

Manuela Schwesig Gesetzentwurf zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher
Bundesfamilienministerin SchwesigBild: picture-alliance/dpa/B. von Jutrczenka

Neues Gesetz soll Abhilfe schaffen

Vor allem in München, aber auch in den anderen besonders betroffenen Großstädten sei die Lage "dramatisch", sagt Schwesig. Ihr "Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung unbegleiteter ausländischer Kinder und Jugendlicher" schreibt daher eine Aufnahmepflicht für alle Bundesländer vor. Wie viele der bundesweit 600 Jugendämter zuständig sein werden, entscheidet jedes Bundesland selbst. Mit dem Gesetz soll dem Kindeswohl und den Bedürfnissen der jungen Flüchtlinge wieder entsprochen werden. Das sei derzeit nicht möglich, stellt die Ministerin fest.

Tatsächlich leben die meisten jungen Flüchtlinge derzeit nicht in gut betreuten Wohngruppen, wie gesetzlich vorgeschrieben, sondern sind zu Hunderten in ehemaligen Kasernen und zweckentfremdeten Turnhallen untergebracht. Für die vielfach traumatisierten jungen Menschen, die vor Krieg, Hunger und Elend, aber auch vor Zwangsrekrutierung, Zwangsprostitution, oder Genitalverstümmelung geflohen sind, ist das kaum zumutbar.

Strenge Regeln und Standards

"Wir müssen ihnen ein neues Zuhause geben", betont Ministerin Schwesig. Das Gesetz schreibt vor, dass innerhalb von zwei Wochen über den neuen Wohnort des jungen Flüchtlings entschieden werden soll. Die Reise dorthin wird begleitet. Auf Kinder- und Jugendhilfe haben zukünftig auch junge Flüchtlinge zwischen 16 und 18 Jahren Anspruch. Bislang lag die Altersgrenze bei 16 Jahren.

Wie bei in der Regel fehlenden Papieren das Alter festgestellt werden kann, das ist Sache der Kommunen. Schwesig setzt sich dafür ein, verbindliche Standards festzulegen. "Ich halte nichts von einer Altersfeststellung über eine Intimuntersuchung, das entspricht nicht der Würde von Kindern und Jugendlichen." Die umstrittene Praxis wird in Zweifelsfällen nach wie vor in Berlin und Hamburg angewendet. Es gebe auch andere Methoden, so die Ministerin, beispielsweise das Röntgen der Handknochen.

Nachwuchs für ländliche Gegenden?

Bei der Formulierung des Gesetzes sei versucht worden, einen Kompromiss zwischen den Interessen der Länder und Kommunen und den Bedürfnissen der Kinder zu finden. Nach der parlamentarischen Sommerpause soll das Gesetz durch den Bundestag gehen und zum 1. Januar 2016 in Kraft treten. Auf freiwilliger Basis können Kommunen aber schon demnächst minderjährige Flüchtlinge aufnehmen.

Im an der Ostsee gelegenen Landkreis Vorpommern-Greifswald wird das wohl so sein. Der dortige Jugenddezernent Dirk Scheer war extra in Schweden, um sich die als vorbildlich geltenden Betreuung Minderjähriger anzuschauen und davon zu lernen. "Für unseren dünn besiedelten Landkreis ist das auch eine Chance", gegründet er sein Interesse an der Aufnahme junger Flüchtlinge. Trotz ihrer schwierigen Lebenslage seien die meisten unbegleiteten Minderjährigen lernwillig und motiviert, eine Ausbildung zu machen. Zudem gebe es in seinem Landkreis bereits eine Reihe von gut integrierten Flüchtlingen. "Unser Integrationsbeauftragter kommt aus Aleppo, wir haben eigentlich schon so etwas wie eine syrische Kommune."