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Auslöser für Jugendkrawalle

10. August 2011

Die Krawalle in Großbritannien schockieren den Soziologen Michael Hartmann nicht. So etwas sei zu erwarten gewesen, sagt er. Die Perspektivlosigkeit der Jugendlichen sei zu groß, die Sparmaßnahmen zu radikal.

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Jugendliche werfen Steine während Krawallen in Nordlondon (Foto: AP)
Bild: dapd

Geschäfte werden geplündert, Autos und Häuser in Brand gesetzt, Kinder attackieren Polizisten. Viele Briten sind entsetzt angesichts solcher Krawalle. Entschuldigen lassen sich die Taten nicht, aber man kann versuchen, sie zu erklären. Die einen machen kriminelle Gangs dafür verantwortlich. die anderen sehen perspektivlose Jugendliche dahinter, die ihren Unmut brutal ausleben. Im Interview mit DW-WORLD.DE erklärt der Soziologe Michael Hartmann von der TU Darmstadt, welche Bedingungen zusammen kommen müssen, damit passiert, was in diesen Tagen Großbritannien erschüttert.

DW-WORLD.DE: Herr Hartmann, haben die Krawalle in Großbritannien Sie überrascht?

Michael Hartmann: "Nicht wirklich. Man kann nur nie vorher sagen, wann sich so eine unterschwellige Stimmung entlädt, die sich auch hier über lange Zeit aufgebaut hat. Das war auch schon der Fall in den Vororten von Paris im vergangenen Jahr. Auf einmal haben Jugendliche hier Autos angesteckt. Meistens ist der Anlass irgendein für die Betroffenen typischer Übergriff seitens der Polizei, der solche Unruhen in der Regel auslöst. Das ist in den USA passiert, als ein Schwarzer von Polizisten verprügelt wurde, obwohl er schon auf dem Boden lag. Oder in Frankreich, als jemand erschossen wurde, den die Polizei verfolgt hat, weil er ein Auto geklaut haben soll. Das sind typische Szenarien, nach denen es irgendwann, ohne dass man sagen kann wann genau, zu solchen Unruhen kommt."

Überrascht Sie noch nicht mal das Ausmaß der Gewalt in Großbritannien?

Geplündertes und ausgebranntes Geschäft in London (Foto: AP)
Geplündertes und ausgebranntes Geschäft in LondonBild: dapd

"Nein. Wäre es jetzt nicht passiert, wäre es vielleicht in einem halben Jahr so weit gekommen. Die jetzige Regierung von David Cameron hat die härtesten Sparmaßnahmen beschlossen, die es momentan überhaupt in irgendeinem entwickelten Land in den letzten Monaten gegeben hat. Das bedeutet vor allem für den ärmeren Teil der Bevölkerung, dass viele Leistungen, kommunale oder staatliche, gestrichen werden. Die Perspektivlosigkeit, die in vielen Londoner Vierteln schon lange herrscht, wird damit noch mal deutlich verschärft. Wenn die Perspektivlosigkeit so umfassend ist, dass die Jugendlichen sich sagen, du hast überhaupt gar keine Chance, egal was du machst, dann reicht meistens irgendein Funke, der das Fass entzündet."

Gibt es da irgendeinen Punkt, ab dem man sagt, hier kann es nicht mehr lange gut gehen?

"Nein. Das kann man nicht allgemein sagen, da gibt es zu viele nationale Traditionen. Es gibt Länder wie die USA und zum Teil auch Großbritannien, in denen traditionell eine größere Kluft zwischen Arm und Reich von großen Teilen der Bevölkerung gebilligt wird. Auf der anderen Seite gibt es unterschiedliche Protestkulturen. Es gibt diese spontanen Aufstände in Ghettos, dort wo es Ghettos gibt, also in den USA, in Großbritannien oder Frankreich. In Deutschland gibt es Ghettos dieser Art noch nicht, auch in Skandinavien nicht. Es müssen bestimmte Voraussetzungen zusammen kommen, damit man auf einmal solche Unruhen erlebt wie jetzt in London oder in Birmingham."

Der britische Premier will das Problem lösen, indem er noch mehr Polizisten einsetzt. Heizt dieses Vorgehen das alles nicht sogar noch an?

"Ob es das anheizt, kann ich nicht sagen. Es kann sein, dass die Übermacht der Polizei irgendwann so groß ist, dass die Krawalle aufhören. Aber es ist mit Sicherheit keine langfristige Lösung. In Großbritannien oder den USA ist die Kriminalität parallel zur enormen Kluft zwischen Arm und Reich gestiegen. Aber in den USA sind die Kosten für die Kriminalitätsbekämpfung inzwischen so hoch, dass selbst republikanische Abgeordnete dazu übergegangen sind, von diesem Prinzip "Law and Order" abzurücken. Sie sagen nicht mehr: Wer dreimal verurteilt ist kriegt auf jeden Fall eine lange Haftstrafe. Das ist einfach zu teuer geworden. Man kann also mit einer Aufstockung des Polizeiaufgebotes kurzfristig etwas erreichen, aber das ist in etwa so, als würde man den Deckel auf einen kochenden Topf Wasser legen und irgendwann ist der Druck so groß, dass der Deckel wieder weg fliegt."

(Foto: AP)
Polizisten verhaften RandaliererBild: dapd

Wie kann man dann solche Gewaltausbrüche von vornherein verhindern?

"Verhindern könnte man sie nur, wenn man wirklich an die Ursachen heran käme. Das bedeutet in Großbritannien, dass man die enorme Kluft zwischen Oben und Unten und die Perspektivlosigkeit ernsthaft angehen müsste. Aber im Augenblick passiert ja genau das Gegenteil. Im öffentlichen Bereich findet ein Kahlschlag sondergleichen statt. Allein den Universitäten werden achtzig Prozent des Etats für die Lehre innerhalb von vier Jahren gestrichen. Außerdem Sozialleistungen und Arbeitsplätze im kommunalen Bereich. Es passiert genau das Gegenteil von dem, was passieren müsste. Man müsste die Kürzungsmaßnahmen im kommunalen Bereich zurückstellen und sagen: Wir sehen ein, dass die Jugendlichen eine Perspektive brauchen. Wir können denen nicht die Jugendzentren dicht machen und die Sozialarbeiter streichen. Wir können an den Schulen nicht weiter kürzen. Wir müssen irgendwie sehen, dass Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen. Das würde ein Stück weit Auswirkung auf die Jugendlichen haben. Wie stark, das kann ich im Augenblick nicht sagen. Auf die Polizei zurück zu greifen wirkt aber allenfalls kurzfristig."

Das Gespräch führte Marlis Schaum

Redaktion: Cornelia Rabitz