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Der Philosoph der Narrenfreiheit

3. März 2011

Jacques Tilly aus Düsseldorf baut die frechsten Karnevalswagen in ganz Deutschland. Seine dreidimensionalen Karikaturen auf Rädern nehmen die Mächtigen aufs Korn – und haben schon politische Entscheidungen beeinflusst.

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Provozierend, mutig und unermüdlich: Karnevalskünstler Tilly (Foto: Alexandra Scherle/ DW)
Bild: DW

Er hat die ganze Nacht durchgearbeitet, wirkt aber überhaupt nicht müde. Mit einem schelmischen Lächeln läuft Jacques Tilly durch die Wagenbauhalle und wirft einen prüfenden Blick auf die kleineren Wagen, die noch nach frischer Farbe duften. Eine singende Aubergine am Mikrofon oder rosarote Löwen neben einer Torte - die meisten dieser Motive wirken so unpolitisch wie ein Kindergeburtstag. Doch das ist nur der öffentliche Teil der Wagenbauhalle in Düsseldorf.

Bis Rosenmontag ein Geheimnis: die politischen Motivwagen

Jacques Tilly arbeitet in einem Wagen (Foto: Alexandra Scherle/ DW)
15-Stunden-TageBild: DW

Hinter verschlossenen Türen, wohlbehütet wie ein Staatsgeheimnis, entstehen in einem Nebenraum Tillys Karikaturen auf Rädern. Zwei Tage vor Altweiberfastnacht ist die Nachricht vom Rücktritt des Verteidigungsministers bekannt geworden. Ob und wie der Plagiatsskandal um Karl-Theodor zu Guttenberg am Rosenmontag karikiert wird, möchte der Karnevalskünstler noch nicht verraten:

"Dass natürlich im Moment so ein paar heiße politische Kandidaten wahrscheinlich am Rosenmontag auf den Straßen gesichtet werden, davon kann man ausgehen - also Stichwort 'Guttenberg' - wenn wir dazu keinen Wagen machen würden, würden wir uns blamieren!" Aber zu den anderen Dingen sage er noch gar nichts – die Narren sollen sich einfach überraschen lassen.

Karneval in Düsseldorf: aktuell und provozierend

Für Überraschungen können Jacques Tilly und sein Team bis zur letzten Sekunde sorgen. Sie seien es den Narren schuldig, "dass nicht kalter Kaffee über Düsseldorfs Straßen rollt". Im Klartext: Wenn am Sonntag vor Karneval eine brisante Nachricht die Öffentlichkeit erreicht, kann sie der 47-jährige Künstler innerhalb einer einzigen Nacht als provozierende Großplastik auf Rädern verarbeiten.

Seinen ersten Wagen baute Jacques Tilly 1983. Damals finanzierte er sich mit dieser ungewöhnlichen Kunstform sein Kommunikationsdesign-Studium in Essen. Doch in den 80er und 90er Jahren hatte er oft riesigen Ärger mit den Wagen, weil sie schon vor dem Rosenmontagszug in der Presse vorgestellt werden durften. Manchmal musste der Künstler besonders provozierende Wagen im letzten Moment noch umbauen - zum Beispiel eine Figur, die den früheren Bundeskanzler Helmut Kohl als nackten Urwaldindianer darstellte.

Keine Angst vor Klage-Androhungen

Barack-Obama-Pappfigur von Jacques Tilly
Eine von Tillys Figuren: Barack Obama als gefallener Engel beim Karneval 2009Bild: picture-alliance/dpa

Also zog das Düsseldorfer Karnevalskomitee im Jahr 2000 die Notbremse: jetzt sind die Wagen bis zum Rosenmontagszug geheim. Doch nach dem Umzug bekommt Jacques Tilly oft bitterböse Post - nicht nur von braven Bürgern, die seine Satire als unanständig empfinden.

Er habe schon viele Klage-Androhungen bekommen, erzählt der Künstler. "Aber da ist noch nie etwas als Brief in mein Haus hereingeflattert, weil die Gerichte in Deutschland die Narrenfreiheit, die Meinungsfreiheit und die künstlerische Freiheit, sehr hoch halten. Das wissen auch die Rechtsanwälte, da ist eben nichts zu machen!"

Religion ist kein Tabu-Thema

Zu dieser Narrenfreiheit gehört es auch, dass Jacques Tilly eine Figur von Kanzlerin Angela Merkel aus dem Allerwertesten von "Uncle Sam" hat herauskriechen lassen. Der Satiriker hat sich durch seine Wagen über islamistische Selbstmordattentäter lustig gemacht und hohe Würdenträger der katholischen Kirche als Hexenverbrenner oder Antisemiten dargestellt. Religionen nimmt er genauso aufs Korn wie aktuelle politische Ereignisse.

2009: Der Papst reicht Bischof Williamson die Hand (Foto: grossplastiken.de)
2009: Der Papst reicht Bischof Williamson die HandBild: grossplastiken.de

"Religiöse Gefühle gelten immer als besonders schützenswert. Das sehe ich einfach nicht ein!" erklärt Tilly. "Alle menschlichen Gefühle sind eigentlich schützenswert... Selbstverständlich dürfen auch religiöse Gefühle verspottet werden, denn sie richten auch oft großen Schaden an: zum Beispiel im Karikaturenstreit", sagt Tilly

Verfechter der Meinungsfreiheit

Als 2006 die Karikaturen des islamischen Propheten Mohammed in einer dänischen Zeitung zu Protesten und Gewalt in einigen muslimischen Ländern führten, bezog Jacques Tilly eindeutig Stellung für die Freiheit des Wortes und des Bildes. Unter anderem durch einen Karnevalswagen, in dem ein schwarzer Sarg mit der Aufschrift "Meinungsfreiheit" von zwei Figuren getragen wird. Die einzigen Grenzen, die für Tilly gelten, sind seine eigenen Vorstellungen von Moral.

"Es gibt Dinge, die würde ich selbstverständlich nie machen, zum Beispiel Spott mit Opfern. Die Täter müssen natürlich schon dran glauben, die werden mit Spott überschüttet", meint der Künstler. Man müsse aber aufpassen, dass man die Opfer nicht gleichzeitig mitverspottet - etwa die von Terroranschlägen.

Ein Wagen hat sogar Politik gemacht

Doch einigen gesellschaftlichen Opfern haben Tillys Provokationen schon geholfen. Vor zwei Jahren zeigte er in einem Wagen den damaligen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen beim Zerstören eines Cellos. Das Instrument gehörte einem Musiker, der sich für Obdachlose einsetzte - also war der Wagen eine harte Kritik an der Entscheidung der Landesregierung, bei der Obdachlosenhilfe riesige Summen zu streichen.

"Ministerpräsident Jürgen Rüttgers hat diesen Wagen gesehen und am Aschermittwoch war das Geld zurück erstattet!" erzählt Jacques Tilly und lächelt zufrieden. "Es war das erste Mal, dass ein Karnevalswagen nicht nur Politik aufs Korn genommen hat, sondern auch Politik gemacht hat - aber das wird wohl eine Ausnahme bleiben."

Autorin: Alexandra Scherle

Redaktion: Conny Paul