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PolitikEuropa

Ivan Krastev: Die EU vor schweren Zeiten

13. September 2022

Der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev glaubt nicht an ein schnelles Ende des Kriegs in der Ukraine. Finanzkrise, Inflation und Energiepreise werden in der EU "massive Turbulenzen verursachen".

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Ukraine Krieg I  BM21 Grad multiple launch rocket system
Ukrainische Soldaten laden einen Raketenwerfer in der Region Charkiw am 12. August 2022Bild: Vyacheslav Madiyevskyy/REUTERS

Deutsche Welle: Herr Krastev, die ukrainische Armee erzielt gerade beeindruckende militärische Erfolge bei ihrer Gegenoffensive gegen die russischen Truppen in ihrem Land. Ist der Krieg in der Ukraine bald zu Ende?

Ivan Krastev: Die Kriege der vergangenen Jahrzehnte haben nie ein richtiges Ende gehabt, die kriegerischen Handlungen wurden einfach irgendwann eingefroren. Das wird wahrscheinlich auch in diesem Krieg passieren. Eine Feuerpause wird es wohl geben, aber keinen echten Frieden. Wie wir hören und lesen, bereitet Russland in den von Moskau kontrollierten Gebieten "Unabhängigkeitsreferenden" vor, was de facto einer Annektierung dieser Territorien gleichkommt. Unter diesen Bedingungen sind Friedensverhandlungen unmöglich.

Die russische Propaganda behauptet, Russland habe die Ukraine längst besiegt. Nun kämpfe man gegen die NATO, die den Krieg mit ukrainischem Kanonenfutter führe. Hat Moskau Recht?

In jedem Krieg beanspruchen beide Seiten den Sieg. Russland hat den Krieg tatsächlich als eine "Spezialoperation" angefangen, in der Überzeugung, dass es innerhalb von wenigen Wochen keine prowestliche Ukraine mehr geben werde. In diesem Sinne hat Russland bereits verloren, denn dieses Ziel hat es nicht erreicht.

Die Behauptung, man kämpfe in der Ukraine eigentlich gegen den Westen, versucht zwei Fragen zu beantworten. Erstens: Warum töten die Russen in der Ukraine Menschen, mit denen sie bis vor kurzem zusammengelebt haben? Und zweitens: Warum hat Russland nicht die erwartete militärische Übermacht? Die einzige Erklärung, die in beiden Fällen plausibel erscheint: Russland kämpft gegen den ganzen Westen. Die These lautet: Der Westen hat Russland betrogen, Russland ist das Opfer und nicht der Aggressor.

Dieses Klischee vom guten Russland gegen die böse Ukraine und den Westen findet offenbar weite Verbreitung. Der russische TV-Moderator Wladimir Solowjow sagte neulich sinngemäß Folgendes: Ja, die Russen sind nicht die reichsten Menschen, sie haben nicht die höchste Lebenserwartung, sie kämpfen aber auf der Seite des Guten. Ist das die Denkweise aller Russen?

Die Russen als das "auserwählte Volk" darzustellen, das die Welt immer wieder rettet, ist nichts Neues. Neu ist allerdings, dass diese Idee innerhalb der russischen Gesellschaft nicht mehr zündet. Da ist eine Konsumgesellschaft entstanden, die zwar bereit ist, die militärischen Einsätze im postsowjetischen Raum zu akzeptieren, nicht aber die Idee der missionarischen Selbstaufopferung. Gerade deswegen versucht die russische Regierung, die Menschen in den großen Städten vom Kriegsgeschehen abzuschirmen. In Moskau oder Sankt Petersburg kann man das berüchtigte Z-Symbol ja kaum sehen.

Porträtaufnahme des russischen Fernsehjournalisten und Moderators Wladimir Solowyow
Fernsehmoderator und Putin-Freund Wladimir Solowyow Bild: Vladimir Fedorenko/Sputnik/dpa/picture alliance

Heißt das, dass die Sanktionen auf die russische Bevölkerung wirken?

Mittelfristig werden sie bestimmt eine Wirkung zeigen, aber auf den Alltag des Normalrussen haben sie bisher keinen großen Einfluss. Betroffen ist nur die urbane Mittelklasse und die Wirtschaftselite, also die etwa zehn Millionen Russen, die ins Ausland reisen. Das ist viel komplizierter geworden. Außerdem werden sie, wenn sie im Ausland sind, dort mittlerweile schief angesehen. Sie sind auf russischer Seite die tatsächlichen Verlierer in diesem Krieg.

Und wer ist der Gewinner? Ein weiteres Moskauer Propagandaklischee behauptet, die einzigen Gewinner seien die USA. Ist da was dran?

Ja, die russische Propaganda behauptet unermüdlich, dass alles, was in der Welt passiert, von den USA verursacht sei und unterm Strich zu einem Gewinn für die USA führe. In der Realität ist aber der wirtschaftliche Schaden durch diesen Krieg in Europa viel schmerzhafter zu spüren als in den USA. Gleichzeitig hat Europa auch seine Abhängigkeit von den USA schmerzhaft gespürt. Paradoxerweise hat kaum einer mehr zu dieser wachsenden Abhängigkeit beigetragen als Präsident Putin. Mit der Behauptung, die USA seien Kriegsgewinnler, versucht Moskau eben einen Keil zwischen Brüssel und Washington zu treiben. Die russische Propaganda wiederholt es immer wieder: Die Öl- und Gaspreise in der EU wachsen, aber die USA sind nicht betroffen, sie verkaufen ihr Flüssiggas.

Zwei ukrainische Soldaten stehen auf einem Mehrfachraketenwerfer
Mehrfachraketensysteme aus dem Westen kommen in der Ukraine zum EinsatzBild: kyodo/dpa/picture alliance

Sie verkaufen auch ihre Waffen.

Im Falle der Ukraine werden die Waffen eher verschenkt. Ja, amerikanische Waffen und die USA sind tatsächlich ein Schlüsselfaktor in diesem Krieg. Die russische Erzählung versucht aber das Ganze umzudeuten: Die USA seien nicht nur beteiligt, sie hätten den Krieg auch gewollt und initiiert. Diese Erzählung ist aber gar nicht überzeugend. Denn die USA waren vor Russlands Angriff strategisch ganz auf China ausgerichtet und haben alles Denkbare getan, um diesen Krieg zu verhindern.

Wie wird sich der Krieg auf die nächste Präsidentschaftswahl in den USA auswirken?

Amerika ist in vielfacher Hinsicht dramatisch gespalten, die Ukraine steht keinesfalls im Zentrum der öffentlichen Debatte. Entscheidend sind die Senats- und Kongresswahlen im November. Bis vor zwei Monaten schien es, dass die Demokraten beide Parlamentshäuser verlieren würden. Das hätte Donald Trumps Positionen massiv gestärkt. Man kann sich vorstellen, wie ein nächster Präsident Trump fröhlich behauptet, der Ukraine-Krieg sei Joe Bidens Krieg gewesen. Falls aber die Demokraten die Kontrolle über den Senat und den Kongress behalten sollten, stellt sich für die Republikaner die Frage: Ist Trump der richtige Kandidat?

Es heißt immer wieder, die USA und Russland stünden gerade am Rande eines Atomkrieges. Sehen Sie das auch so?

Die Gefahr besteht zwar, ist aber zurzeit nicht so ernsthaft. Denn das Einzige, was die Russen und die Amerikaner momentan gemeinsam meistern, ist die Verhinderung einer nuklearen Eskalation. Das große Risiko sind aber die ukrainischen Atomkraftwerke. Die Kämpfe verlaufen in gefährlicher Nähe zu den Anlagen, ein Fehler oder menschliches Versagen könnte zu einer dramatischen Entwicklung führen. Der Einsatz von Atomwaffen wird nur im Falle eines gewaltigen militärischen Erfolgs der Ukraine wahrscheinlicher. Oder wenn Kiew versuchen sollte, die Krim zurückzugewinnen.

Wird Moskau den Krieg in andere Länder exportieren, nach Moldau oder in die baltischen Staaten?

Das hängt vom Verlauf des Krieges in der Ukraine ab. Momentan versucht Russland, eine breite Mobilmachung zu vermeiden. Moskau will unter keinen Umständen die Söhne der urbanen Mittelklasse an die Front schicken. Je nachdem, wie es in der Ukraine weiterläuft, könnte Russland tatsächlich Moldau angreifen - aber die baltischen Staaten keinesfalls. Sie sind NATO-Mitglieder und wenn sie attackiert würden, wäre das ein ganz anderer Krieg.

Ein mit ukrainischen Fahnen geschmückter Panzer, aus dem ein Soldat grüßt in der Region Charkiw, die durch die Ukrainische Armee zurückerobert wurde
Die ukrainische Armee hat Mitte September 2022 viel Gebiet zurückerobertBild: Metin Aktas/AA/picture alliance

Die Balten, aber auch die Polen, haben innerhalb der EU lange vor Moskaus Angriff auf die Ukraine Alarm geschlagen und vor der von Putin ausgehenden Gefahr gewarnt - aber niemand hat zugehört. Jetzt ist der Krieg da. Welche Auswirkungen wird er auf die EU haben?

In erster Linie hat er zu einer Konsolidierung der EU geführt. Die Einstellungen der Regierungen, aber auch der Bürger, haben zu beispiellosen Sanktionen gegen Russland geführt. Die Unterstützung für die Ukraine bleibt groß, aber mittlerweile wachsen auch die Spannungen innerhalb der EU und in einzelnen EU-Ländern. Ich befürchte, dass die nächsten sechs bis neun Monate die schwierigsten in der Geschichte der EU sein werden.

Jetzt zahlen wir einen enormen Preis für den Krieg - aber die EU wurde schon vorher von anderen Krisen heimgesucht. In diesem Sinne scheint mir der Krieg wie eine Art Long-COVID: Die Flüchtlingskrise ist wieder da, aus der Ukraine sind schon doppelt so viele Geflüchtete nach Europa gekommen wie während des Syrienkrieges. Die Finanzkrise ist auch wieder da, es drohen Instabilität und Inflation.

Europa und Japan müssen zur Zeit für Energie monatlich rund 100 Milliarden US-Dollar mehr aufwenden als vor einem Jahr. Diese gewaltige finanzielle Belastung erzeugt massive Probleme. Und die Gesellschaften sind schon jetzt müde. Es wird mehr Proteste wie die in Prag und in Deutschland geben, fürchte ich. Unterschiedliche Gruppen haben sich während der unterschiedlichen Krisen konsolidiert. Menschen, die während der Finanzkrise an den Rand gedrängt wurden, Flüchtlingsgegner, Impfgegner: Heute kommen sie alle zusammen als Gegner des Establishments und erheben Forderungen. Das wird massive Turbulenzen in der EU erzeugen.

Das ist aber immer noch nicht das Schlimmste. In allen bisherigen Krisen war Deutschland der Stabilitätsfaktor, ein Fels in der Brandung. Heute aber gehört Deutschland zu den Ländern, die von der Krise wirtschaftlich am meisten betroffen sind. Darüber hinaus wird die moralische Legitimität der Bundesrepublik in Frage gestellt, besonders von den Balten und den Polen, aber auch von den Tschechen. Diese geänderten Einstellungen gegenüber Deutschland - aber auch gegenüber Frankreich - erschweren zusätzlich die Bemühungen, aus dieser massiven Krise herauszukommen.

Bulgarien l Politologe Ivan Krastev
Bild: Nadezhda Chipeva

Der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev ist Leiter des Centre for Liberal Strategies in Sofia und Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaft vom Menschen (IWM) in Wien.

Das Interview wurde am 06.09.2022 geführt und am 12.09.2022 aktualisiert.