1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikEuropa

IS nimmt Europa erneut ins Visier

27. August 2024

Der Anschlag von Solingen ist nur das jüngste Beispiel einer neuen Gewaltwelle mit Verbindung zur Terrorgruppe "Islamischer Staat". Experten sehen den Krieg im Nahen Osten als wichtigsten Auslöser.

https://p.dw.com/p/4jy1M
Blumen, Kerzen und ein Pappschild mit dem Wort "Warum?" auf dem Straßenpflaster
Am Tatort: Trauer nach dem Solinger Messerangriff mit drei TotenBild: Sascha Schuermann/Getty Images

Nach dem Messerangriff von Solingen hat sich die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zu der Tat bekannt. Der Angreifer habe aus "Rache für Muslime in Palästina und anderswo" gehandelt; der Angriff habe einer "Gruppe von Christen" gegolten, teilte Amak, das Sprachrohr des IS, mit.

"Extremisten nutzen den aktuellen Konflikt im Nahen Osten als Mobilisierungsthema", sagt Thomas Mücke der DW. Er arbeitet für das Violence Prevention Network (VPN), eine Organisation zur Extremismusprävention und Deradikalisierung von Gewalttätern. Seit dem 7. Oktober 2023 sieht Mücke "eine Vervierfachung der Zahlen" der Anschläge und Anschlagsversuche in Westeuropa. Damals hatte Israel nach einem Terroranschlag der Hamas zu einem Gegenschlag im Gazastreifen ausgeholt, bei dem nach Angaben der Hamas-kontrollierten Gesundheitsbehörde dort bis heute rund 40.000 Menschen getötet sein sollen. Die Zahl lässt sich nicht unabhängig überprüfen.

Mobilisierung durch den Krieg im Nahen Osten

Der Angriff von Solingen reiht sich ein in eine ganze Serie von islamistischen Anschlägen und Anschlagsversuchen innerhalb weniger Wochen in ganz Europa, auch wenn nicht immer klar ist, ob der IS jeweils dahintersteckt.

Am selben Tag wie dem Angriffstag von Solingen explodierten vor einer Synagoge im südfranzösischen La Grande-Motte zwei Autos. Kurz vor zwei geplanten Konzerten der US-Sängerin Taylor Swift Anfang August in Wien nahmen die österreichischen Behörden zwei mutmaßliche Sympathisanten des IS fest. Der 19-jährige Hauptverdächtige, ein Österreicher mit nordmazedonischen Wurzeln, sagte laut dem österreichischen Staatsschutz bei seiner Verhaftung, er habe "sich selbst und eine große Menschenmenge töten" wollen. Die Konzerte wurden abgesagt.

Menschenmenge in einer Fußgängerzone
Fans der amerikanischen Sängerin Taylor Swift versammelten sich in Wien nach der Konzertabsage aufgrund eines konkreten TerrorhinweisesBild: Wolfgang Hauptmann/APA/dpa/picture alliance

Ende Mai verletzte ein Afghane im süddeutschen Mannheim einen Polizisten tödlich und fünf weitere Personen schwer. Der Angriff galt einem Vorstandsmitglied der islamkritischen Bewegung Pax Europa. Es wurden in diesem Fall keine direkten Verbindungen zum IS bekannt, die Ermittler stuften die Tat aber als "religiös motiviert" ein.

Große Befürchtungen vor IS-Gewalt hatten die deutschen und französischen Behörden dann bei der Fußball-Europameisterschaft in Deutschland und den Olympischen Spielen in Paris diesen Sommer. Beide Großveranstaltungen verliefen friedlich, möglicherweise aber nur dank verstärkter Sicherheitsmaßnahmen in den Städten und mehr Grenzschutz.

Seit dem 7. Oktober 2023 wurden in Westeuropa sieben Anschläge und 21 Anschlagsversuche oder geplante Anschläge offiziell registriert. Überraschen kann die Welle nicht, meint Thomas Mücke: "Der IS hat Westeuropa als Anschlagsziel definiert, natürlich mit der Absicht, Schrecken und Angst zu verbreiten, die Gesellschaft zu spalten, damit sie noch mehr Personen für ihre Zwecke rekrutieren können."

Der schwerste Anschlag der jüngsten Zeit, zu dem sich der IS bekannte, war allerdings nicht in Westeuropa, sondern im März 2024 in Moskau, als bei einem Terrorangriff auf eine Konzerthalle mehr als 140 Menschen getötet wurden. "Soldaten des Islamischen Staats griffen eine große Versammlung von Christen an" und "töteten und verletzten Hunderte", hieß es daraufhin bei Amak.

Aufruf, "Ungläubige" zu töten

Weltweit bekannt wurde die Terrormiliz vor zehn Jahren, als ihr damaliger Chef Abu Bakr al-Bagdadi die Errichtung eines "Kalifats" im Nahen und Mittleren Osten ausrief. In dieser muslimischen Regierungsform liegt sowohl die weltliche als auch die geistliche Führung in der Hand des Kalifen. Im Jahr darauf erreichte der IS den Höhepunkt seiner Macht und beherrschte weite Teile Syriens und des Irak. Videos von brutalen Morden und besonders Enthauptungen wurden ins Netz gestellt.

Aber auch Europa und den gesamten Westen nahm der IS ins Visier - "Ungläubige" nach seiner Lesart. "Der IS ruft über die Internetpropaganda immer wieder dazu auf, solche Anschläge durchzuführen", sagt Mücke, "und es gibt auch genaue Beschreibungen, wie man Anschläge durchführen kann, zum Beispiel mit Autos überall 'Ungläubige' zu töten".

Vermummte Männer mit Maschinengewehren in einer Wüstenlandschaft
IS-Kämpfer im syrischen Rakka auf dem Höhepunkt ihrer Macht 2015 Bild: Dabiq/Planet Pix via ZUMA Wire/ZUMAPRESS/picture alliance

Besonders verheerend waren mehrere Anschläge in Paris an einem Tag Ende 2015 mit insgesamt 130 Toten und das Attentat eines IS-Sympathisanten mit einem Lastwagen auf einen Berliner Weihnachtsmarkt 2016, der zwölf Menschen das Leben kostete; es war das bisher schwerste islamistische Attentat in Deutschland.

Seit 2019 gilt der IS im Nahen und Mittleren Osten als militärisch besiegt. Das Projekt eines islamischen Staates war spätestens zu diesem Zeitpunkt gescheitert. Auch IS-Anschläge in Europa gingen eine Zeitlang zurück. Doch der Dschihadismus scheint mit einer neuen Anschlagswelle zurückgekehrt zu sein.

Die Täter seien jünger geworden, meint Mücke, zwei Drittel der Festgenommenen in Westeuropa seien Teenager. Und nach dem Alter richteten sich auch die Methoden der Ansprache. "Das Internet spielt bei der Radikalisierung, der Mobilisierung eine ganz große Rolle, auch bei der Rekrutierung."

Lichtblick: wenn Radikalisierung früh erkannt wird

Hoffnung auf Besserung kann der Experte nicht wirklich verbreiten. Die Eskalation des Nahost-Konflikts seit dem 7. Oktober 2023 "wird auch für die nächsten Jahre die Terrordynamik beeinflussen".

Messerverbotszonen, wie sie Deutschlands Innenministerin Nancy Faeser verstärkt einrichten will, nützen in den Augen zahlreicher Experten wenig: Jemand, der mit einem Messer Menschen töten will, werde sich wohl kaum von einem Verbot beeindrucken lassen.

Lastwagen mit zertrümmerter Frontscheibe wird auf einen Tieflader gezogen
Das Attentat mit einem LKW auf einen Berliner Weihnachtsmarkt 2016 war der bisher folgenschwerste islamistische Angriff in DeutschlandBild: picture-alliance/dpa/M. Kappeler

Trotzdem hat Thomas Mücke vom Violence Prevention Network einen Lichtblick anzubieten: "Die Anrufe bei den Beratungshotlines haben sich seit dem 7. Oktober vervielfacht. Und dann kriegen wir die Hinweise und können versuchen, Radikalisierungsprozesse, die beginnen, relativ früh zu unterbrechen."

Die Tatsache, dass die Täter jünger würden, sieht er auch als Chance. "Ich setze erstmal darauf, dass Menschen, die sich radikalisieren, sich in ihrem Wesen verändern und im Umfeld das auch auffällt", sagt er. "Und es ist wichtig, dass diese Veränderungen schnellstmöglich mitgeteilt werden, dass man Hilfe und Unterstützung sucht, weil jede extremistische Szene versucht, gerade die junge Generation anzusprechen und zu rekrutieren, das ist deren Nachwuchs. Und hier haben wir noch am besten die Chance, den Extremismus und den Terrorismus einzudämmen."

Kanzler Scholz gedenkt der Opfer von Solingen und kündigt Konsequenzen an

 

Christoph Hasselbach
Christoph Hasselbach Autor, Auslandskorrespondent und Kommentator für internationale Politik