Millionen gegen Mursi
1. Juli 2013Kairo ist im Ausnahmezustand. Bis zum späten Sonntagabend strömten in der Hauptstadt Millionen Anti-Mursi-Demonstranten auf die Straßen. Es sind Arme und Reiche, Junge und Alte, Militäranhänger und liberale Revolutionäre, Männer und Frauen – verschleiert und unverschleiert. Sie rufen an den Präsidenten gerichtet "Irrhaal!". Das bedeutet auf Deutsch: "Verschwinde!" Viele heben symbolisch selbst angefertigte rote Karten in die Höhe. Es sind ägyptische Fahnen und die durchgestrichenen Portraits des Präsidenten, die das Bild dieser neuen Revolutionswelle prägen.
Unter den Nicht-Islamisten herrscht Einigkeit: Vorbei sind die Zeiten, da jede Partei ihre eigenen Fahnen und Banner mitbrachte. Die Botschaft ist klar: Mursi müsse weg, sagt ein 16-jähriger Gymnasiast, der vor dem Präsidentenpalast demonstriert: "Ich bin heute hier, weil sich das Land völlig verändert hat. Mubarak war korrupt, aber immer noch besser als Mursi. Wir realisieren jetzt, dass Mursi noch korrupter ist."
Volksfeststimmung - und wilde Entschlossenheit
Es herrscht einerseits Volksfeststimmung. Menschen lachen und scherzen miteinander. Bunte Vuvuzelas und Pfeifen verursachen ohrenbetäubenden Lärm. Auf kleinen hölzernen Handkarren werden Maiskolben gegrillt oder Früchte angeboten. An einem der Eingangstore zum Palast wird jedoch klar, dass hier nicht gefeiert wird: Hunderte Jungendliche steigen dort auf schwere Metallcontainer, die eigentlich als Barrikaden vor der Palastmauer positioniert wurden. Sie stampfen mit ihren Füßen wild auf das rostige Eisen. Ein monotones Donnern verbreitet sich dadurch über das ganze Gelände. Wie in Trance schwenken sie dabei ägyptische Fahnen und brüllen im Chor: "Verschwinde!“
Es ist die wilde Entschlossenheit, sich die Politik der Muslimbrüder nicht weiter gefallen zu lassen. Millionen gingen auch schon zum Jahrestag der Revolution auf die Straße. Doch diese Demonstranten sind entschlossen, den Präsidenten zu stürzen. Amr Shawy ist einer von ihnen: "Ich werde weiter demonstrieren und beharre darauf, dass er zurücktritt. Alle hier sind sich einig und wollen bleiben, damit er verschwindet. In meiner Familie sind sich alle einig darüber. Und wenn ich jetzt gehe, wird jemand anderes aus meiner Familie mich hier ersetzen."
Doch darüber, wie die Demonstranten Mursi los werden sollen, gibt es verschiedene Ansichten. Ali Saijid, ein 35-jähriger Lehrer, ist für friedliche Proteste. Sollte das nicht funktionieren, müsse man im ganzen Land zivilen Ungehorsam starten. Genau dazu hat die "Bewegung 6. April", eine der einflussreichsten Jugendbewegungen der Revolution, am Abend auch offiziell aufgerufen. Ali Saijid kalkuliert dabei offen mit dem Eingreifen des Militärs. Seiner Meinung nach würde es die Armee nicht zulassen, dass das Land so dauerhaft zum Stillstand kommt. Am Ende würde sie die Macht von den Muslimbrüdern übernehmen.
Und die Einstellung gegenüber der Armee ist bei vielen Demonstranten positiv. Immer wieder kann man den Slogan "Militär und Volk sind eine Hand" vor dem Palast hören. Als nachts ein Militärhubschrauber über den Demonstranten kreist, zielen sie mit hunderten grünen Laserpointern auf die Unterseite des Helikopters und brechen in lauten Jubel aus, einige applaudieren. Doch insbesondere die jugendlichen Aktivisten, die unter den Verbrechen des Militärregimes nach der Revolution gelitten haben, könnten sich damit kaum arrangieren. Einige Demonstranten schränken daher ein, so auch die etwa 40-jährige Salma: "Ich bin nicht gegen das Militär. Es sollte die Macht übernehmen, aber nur vorübergehend während der Übergangsphase zu Präsidentschaftswahlen, ohne Wahlbetrug. Die Armee ist notwendig, um das Land zu beschützen, aber nicht, um das Land zu regieren."
"Deshalb wirst Du umgebracht!"
Auch unter den Demonstranten in der Nähe des Präsidentenpalastes gibt es durchaus Gewaltbereite: Unter großem Jubel und lauten "Verschwinde"-Rufen entrollten einige von ihnen vor dem Palast ein riesiges Plakat mit dem durchgestrichenen Gesicht des Präsidenten über eine Hausfassade. Daneben stand geschrieben: "Du hast dieses Land regiert, aber Du warst nicht gerecht, deshalb wirst Du umgebracht!" Auch Salma schließt Gewalt nicht aus: "Es kann durchaus gewalttätig werden, aber die Gewalt wird von den Muslimbrüdern ausgehen. Wir hoffen, dass Gott uns und die Jugendlichen hier beschützen wird. Selbst wenn die Muslimbrüder Waffen haben sollten: Wir sind mehr als sie."
Doch der nächtliche Angriff auf das zentrale Hauptquartier der Muslimbrüder in Kairo zeigt, dass Gewalt auch von anderen ausgeht. Das Gebäude wurde in Brand gesteckt. Die Polizei griff nicht ein – nachdem sie immer wieder angekündigt hatte, keine Einrichtungen der Muslimbrüder zu bewachen.