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Vom Olympia-Traum zum Paralympics-Star

Davis Van Opdorp adaptiert von Stefan Nestler
5. Januar 2020

Einst galt sie als große Hürdensprint-Hoffnung Südafrikas. Heute sammelt Irmgard Bensusan als deutsche Parasportlerin Trophäen. Für die Paralyampischen Spiele 2020 in Tokio hat sie Gold im Visier.

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Sprinterin Irmgard Bensusan holt Gold
Bild: picture-alliance/dpa/J. Büttner

Bensusans Ziel ist paralympisches Gold

Wenn man sie in der Fritz-Jacobi-Sporthalle in Leverkusen trainieren sieht, kann man Irmgard Bensusan leicht für eine nicht-behinderte Sportlerin halten. Die 28-Jährige zieht einen Schlitten, der mit Gewichten beschwert ist, hinter sich her. Der Gummibelag unter ihren Füßen quietscht jedes Mal, wenn sie sich mit ihren Beinen nach vorne drückt. Erst wenn man die Orthese an Bensusans rechtem Fußgelenk bemerkt, wird klar, dass sie eine Behinderung hat: einen schweren Nervenschaden im rechten Bein. Bensusan kann ihren Fuß nur etwa einen Zentimeter anheben. Nach innen kann sie ihn drehen, nach außen nicht. "Es ist einfach ein Teil meines Körpers, der nicht funktioniert", sagt die Leichtathletin der DW.

In Pretoria geboren, galt Bensusan als Juniorin als aufstrebendes Talent über 100 Meter Hürden und im 200-Meter-Lauf. Bis zu den südafrikanischen Juniorenmeisterschaften 2009: Beim Aufwärmen stürzte die damals 18-Jährige an einer Hürde. "Ich versuchte aufzustehen. Aber dann registrierte ich, dass mein Fuß einfach nur herunterhing", sagt Bensusan. "Ich sah mein Bein an und begann zu schreien. Ich glaube, das ganze Stadion hat es gehört."

Kein Gefühl im Fuß

Im Krankenhaus piksten Ärzte mit einer Nadel in den rechten Fuß, um Bensusans Reaktion zu testen. Sie fühlte nichts. Bei der anschließenden Operation stellte sich heraus, dass ein Nerv unterhalb ihres rechten Knies geschädigt war. Die Hoffnung, dass er sich selbst regenerieren würde, erfüllte sich nicht. Ein halbes Jahr nach dem Unfall eröffnete ein Arzt der Sportlerin, dass sie nie mehr wie früher werde laufen können. "Ich sah ihn fassungslos an", erinnert sich Bensusan. "So, als wollte ich sagen: Nein, das kann nicht wahr sein. Sie lügen. Ich verstehe nicht, was Sie sagen."

Integratives Sportfest Leverkusen 2019
Bensusan hält in ihrer Startklasse den Weltrekord über 100 MeterBild: picture-alliance/dpa/M. Volkmann

Auf der Heimfahrt sprach Bensusan kein Wort, zu Hause verschwand sie in ihrem Zimmer und schloss sich ein. Am nächsten Morgen schlug ihre Mutter vor, dass sie einen Psychologen aufsuchen sollte. "Ich hatte wer weiß wie lange von einer Laufkarriere geträumt, davon, bei Olympischen Spielen zu starten, Profi zu werden. Dieser Traum war nun geplatzt", sagt Bensusan. "Ich denke, das war das größte psychologische Problem, viel belastender als der Fuß, der nicht mehr funktionierte."

Wechsel nach Deutschland wegen des Sports

Den Sport wollte sie nicht aufgeben. Bensusan beschloss, bei Behindertensport-Wettkämpfen zu starten. Doch in Südafrika wurde ihre dauerhafte Nervenschädigung im Bein nur auf Regional-Ebene als Behinderung anerkannt, von nationalen Meisterschaften war sie ausgeschlossen. Ihre in Hannover geborene Mutter nahm Kontakt zum Deutschen Behindertensportverband (DBS) auf, der sie an den renommierten Leichtathletikverein TSV Bayer 04 Leverkusen vermittelte.

Nach dem Abschluss ihres Studiums in Rechnungswesen an der Universität Johannesburg packte Bensusan die Koffer. In Deutschland wurde sie als Behindertensportlerin eingestuft - ironischerweise klassifiziert von derselben Frau, die sie zuvor in Südafrika abgewiesen hatte. "Wenn ich daran zurückdenke, wird mir immer noch angst und bange", sagt Bensusan. "Ich wurde später noch zweimal eingestuft, beide Male wurde meine Startklasse [T 44: "Einseitig Unterschenkelamputierte, Vorfußverlust und diesen Einschränkungen Gleichgestellte" - Anm. d. Red.] bestätigt. Ich empfand es als extrem stressig. In dem Moment hängt dein ganzes Leben davon ab. Ich möchte das nie wieder durchmachen müssen."

Parasportlerin des Jahres 2019

Seit 2014 lebt und trainiert Bensusan in Deutschland und hat als deutsche Behindertensportlerin bei Paralympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften bereits vier Gold- und elf Silbermedaillen gewonnen, darunter Silber über 100, 200 Meter und 400 Meter bei den Paralympics 2016 in Rio de Janeiro. Bensusan hält in ihrer Startklasse die Weltrekorde über 100 (12,72 Sekunden) aufgestellt und 200 Meter (26,15 Sekunden).

Para-Leichtathletik-WM
Erster WM-Titel für Bensusan (3.v.l.) im 200-Meter-Finale von DubaiBild: picture-alliance/Eibner-Pressefoto

Bei der WM in Dubai im November gewann sie - über 200 Meter - ihren ersten WM-Titel. Im Ziel hatte Bensusan zunächst lautstark geflucht, weil sie angenommen hatte, als Zweite über die Ziellinie gelaufen zu sein. "Die Läuferinnen mit Prothesen überholen mich sehr häufig auf den letzten fünf Metern", erklärt Bensusan ihr Verhalten. "Ich war so frustriert. Erst im Fernsehinterview nach dem Rennen erfuhr ich, dass ich gewonnen hatte." 2019 wurde Bensusan zur deutschen "Parasportlerin des Jahres" gekürt.

"Schluffi ist schuld"

"Irmgard ist eine selbstbewusste und akribische Sportlerin", sagt ihr langjähriger Trainer Karl-Heinz Düe der DW. "Sie ist sehr diszipliniert und immer pünktlich." Düe hat Bensusan auch dazu inspiriert, ihr teilweise gelähmtes Bein "Schluffi" zu nennen. Wenn ihr Trainer sie zu langsam fand, rief er "Schluffi". Nun heißt ihr rechtes Bein so. Wenn Düe sie wieder mal kritisiere, so Bensusan, antworte sie jetzt: "Schluffi ist schuld. Ich kann nichts dafür." Bensusan kichert.

Ihr nächstes großes Ziel sind die Paralympischen Spiele in Tokio 2020, bei denen sie erstmals Gold gewinnen will. Sie schaue nur nach vorn, nicht zurück, sagt Bensusan: "Stolzer als auf jedes Edelmetall, das ich unter Umständen ohne meinen Unfall bei Olympischen Spielen geholt hätte, bin ich auf die drei Silbermedaillen, die ich bei den Paralympics in Rio gewonnen habe. Sie stehen für die harte Zeit, die ich durchgemacht habe: das ganze Kämpfen, die Tränen, das Hinfallen und Wiederaufstehen."

Während sie in der Fritz-Jacobi-Halle in Leverkusen ihren Lastenschlitten zieht, trainieren auf der Nebenbahn die Hürdenläufer. Um nicht an ihren eigenen Unfall erinnert zu werden, vermeidet Irmgard Bensusan den Blickkontakt: "Jedes Mal, wenn ich jemanden in der Nähe einer Hürde sehe, muss ich wegschauen."