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Osteuropa, der Tschetschenien-Krieg und die Schweizer

Julia Hitz
18. November 2021

Der Kesten-Preis des PEN-Zentrums geht an Irena Brežná. Die Kriegsreporterin und Autorin setze sich stets für Dissidenten und Verfolgte aus Osteuropa ein, begründet die Jury ihre Entscheidung.

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Schriftstellerin Irena Brezná
Bild: gezett/imago images

1968 war Irena Brežnás Schicksalsjahr. Als 18-Jährige flüchtete sie nach dem Prager Frühling aus Bratislava in die Schweiz. Sie landete in Basel - und blieb. Ihre eigene Migrationsgeschichte verarbeitete sie immer und immer wieder schreibend, erst in Essays und Reportagen, dann auch in Romanen. Sie wurde nach der Wende zur feinsinnigen Beobachterin der Entwicklungen in Osteuropa und Kriegsreporterin in Tschetschenien.

Die 71-Jährige habe sich "Zeit ihres Lebens unermüdlich für Gerechtigkeit und Freiheit eingesetzt und den Dissidenten und Verfolgten in Osteuropa eine Stimme gegeben", so die Jury des deutschen PEN-Zentrums, die ihr nun den Hermann-Kesten-Preis verleiht.

Für freie Meinungsäußerung

Die Schriftstellervereinigung PEN verleiht den Hermann-Kesten-Preis an Persönlichkeiten, die sich für verfolgte Journalistinnen und Journalisten einsetzen. Bisher wurden unter anderem Günter Grass, Anna Politkowskaja, Liu Xiaobo, Can Dündar und Gioconda Belli ausgezeichnet. 

Die Auszeichnung erinnert an den deutschen Schriftsteller und ehemaligen PEN-Präsidenten Hermann Kesten, der 1940 vor den Nationalsozialisten in die USA floh. Dort setzte er sich ehrenamtlich für die Rettung von Verfolgten des Nazi-Regimes ein, insbesondere von Künstlerinnen und Künstlern sowie Schriftstellerinnen und Schriftstellern.

Der mit 10.000 Euro dotierte Preis wird seit 1985 verliehen. Außer Brežná werden der Journalist und Autor Günter Wallraff als Kesten-Preisträger 2020 sowie die Chefredakteurin der ägyptischen Online-Zeitung "Mada Masr", Lina Attalah, mit mit dem Kesten-Förderpreis 2020 geehrt.

Einfühlsame Stimme osteuropäischen Lebens und Leidens

Der Preis würdigt insbesondere Irena Brežnás Tätigkeit als Journalistin, Berichterstatterin und Beobachterin Osteuropas nach der Wende. Sprachgewaltig und einfühlsam sind die Reportagen und literarischen Essays, die sie von ihren Reisen durch Osteuropa mitbrachte. 

Buchcover | Die Wölfinnen von von Sernowodsk | von Irena Brezná
Vom Tschetschenien-Krieg berichtet Brezná viel aus weiblicher SichtBild: Quell Verlag Stuttgart

Als Ende 1994 russische Truppen in das kaukasische Bergland vordrangen, um die tschetschenische Republik wieder unter die Kontrolle Moskaus zu bringen, machte auch Irena Brežná sich auf. Als Tschetschenin verkleidet berichtete sie aus dem bis dato kaum bekannten Land.

"Ihre Augenzeugenberichte über konkrete Erfahrungen mit dem blindwütigen russischen Terror gegen tschetschenische Städte und Dörfer bringen die physischen und seelischen Zerstörungen, die dieser Krieg angerichtet hat, dem Leser in einer Weise nahe, dass er sie nicht so schnell wieder vergisst", schreibt die Neue Zürcher Zeitung über ihre Reportagen aus Sernovodsk, für die sie 2002 auch mit dem renommierten Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet wird. 

Journalistin und Literatin

Im Grunde ist es eine Annäherung zweier Schreibformen, der literarischen und der journalistischen, die Irena Brežnás kreatives Schaffen prägt. Nach dem Studium der Slavistik, Philosophie und Psychologie an der Universität Basel arbeitete sie als Dolmetscherin für Migranten bei Schweizer Behörden, als Russischlehrerin und an psychologischen Forschungsinstituten in Basel und München. 

Schriftstellerin Irena Brezná
Schriftstellerin Irena BreznáBild: Luboš Pilc

Ihre ersten literarischen Gehversuche sind Fragmente, die als Sammelband 1986 publiziert wurden, es folgten Erzählungen und ein Kinderbuch, die sich mit europäisch-afrikanischen Beziehungen auseinandersetzen. Immer mit Bezügen zu ihrer eigenen Biographie, stammt doch einer ihrer Söhne aus einer binationalen Beziehung. Brežná wird Mitglied von Amnesty International und engagiert sich - nicht nur schreibend - für Entrechtete, Dissidentinnen und Dissidenten. Es ist nur konsequent, dass Brežnás Autobiographie, die 2018 erschien, als Mosaik aus allen Formen und über alle Länder hinweg gestaltet ist.

Hitzige Debatten in der Schweiz

Nach der Erforschung der Vergangenheit wendete sich Brežná 2012 ihrer aktuellen Heimat, der Schweiz, zu. "Die undankbare Fremde" wirft einen kritischen Blick auf die Migrationspolitik des Alpenstaates, wird international besprochen und in mehrere Sprachen übersetzt.

Buchcover | Die undankbare Fremde | von Irena Brezná
Erzählt von Anpassung und Widerstand: Die undankbare Fremde von Irena Brezná

Eine Schweizer Rezensentin bewertet: "'Die undankbare Fremde' hat eher essayistischen Charakter. Ironisch hält sie darin den freundlichen, ordentlichen, bescheidenen und demokratischen EidgenossInnen den Spiegel vor, der nicht immer ein schmeichelhaftes Bild zurückwirft." Der Roman wird 2012 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

Heimat in der Sprache

Brežná hat sich im Slowakischen versucht, aber dann ihre Schriftstellerkarriere in deutscher Sprache gemacht. Deutsch hat sie sich erarbeitet, wie sie selbst sagt: Sie "schleife an ihr, wie die Tischlerin an den Tischverzierungen". 

Nach ihrer Heimat gefragt, mag sie sich mit diesem Begriff an kein Land binden. Brežná hat sich in der Sprache ihre eigene Heimat erarbeitet, ihre Freiheit. "In der Muttersprache bin ich konventionell, auf Deutsch wiederum erfinderisch", sagte Brežná in einem Interview. "Schreibe ich, finde ich mich auf dieser Welt zurecht - indem ich sie mitgestalte".