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Politik

Interpol: "Souveränität der Staaten achten"

Roman Goncharenko
12. Dezember 2021

Über Interpol wurde 2021 auch nach Oppositionellen gefahndet, etwa dem Russen Alexej Nawalny oder der Belarussin Swetlana Tichanowskaja. Wie geht Interpol damit um? Generalsekretär Jürgen Stock im DW-Interview.

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Frankreich Lyon | Interpol Hauptquartiert
Bild: Laurent Cirpiani/AP Photo/picture alliance

Jürgen Stock ist seit 2014 Generalsekretär von Interpol. Die DW hat mit ihm über die Roten Ausschreibungen der internationalen Polizeiorganisation gesprochen. Eine "Red Notice" wird von Interpol auf Antrag eines Mitgliedslandes erlassen und basiert auf einem nationalen Haftbefehl. Sie ergeht an Polizeibehörden weltweit. Unter anderem postsowjetischen Ländern, allen voran Russland, wird vorgeworfen, diese internationale Fahndung politisch zu missbrauchen.

Deutsche Welle: Interpol war jüngst in den Schlagzeilen. Auf der Generalversammlung in Istanbul ist ein neuer Präsident gewählt worden, Generalmajor Ahmed Nasser al-Raisi aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Ihm wird Beteiligung an Folter vorgeworfen. Wird Interpol durch die Vorwürfe geschwächt?

Jürgen Stock: Die Vorwürfe sind uns natürlich bekannt. Sie sind auch schwerwiegend. Allerdings gilt auch für al-Raisi ohne Abstriche die Unschuldsvermutung. Er ist gewählt worden mit überwältigender Mehrheit durch die Generalversammlung von Interpol. Ich schaue nach vorne und setze die erfolgreiche Arbeit, die ich hier seit 2014 leiste, in der Modernisierung der Organisation mit dem Exekutivkomitee fort. Unsere Aufgabe ist es, die 195 Mitgliedsstaaten im Kampf gegen den internationalen Terrorismus, organisierte Kriminalität und Cybercrime miteinander informationell zu verbinden.

Jürgen Stock
Generalsekretär Jürgen Stock nimmt Stellung zu Vorwürfen gegen InterpolBild: picture-alliance/AP Photo/K. Jebreili

Wir haben ein begrenztes Mandat. Wir haben uns Kraft unserer Verfassung aus Deliktsbereichen herauszuhalten, die überwiegend einen politischen, militärischen, religiösen oder rassischen Charakter haben. Es ist aber wichtig, dass innerhalb dieses begrenzten Mandats alle Staaten, egal welchen politischen Systems, zusammenarbeiten. Weil alle Lücken, die wir in der internationalen polizeilichen Zusammenarbeit lassen, durch Straftäter und Terroristen gnadenlos ausgenutzt werden. Aber wenn die Staaten Interpol nutzen, haben sie unsere Regeln strikt einzuhalten.

Menschenrechtsaktivisten und Experten kritisieren Interpol seit langem dafür, dass autoritäre Länder Interpol für politische Zwecke missbrauchen, um Oppositionelle zu verfolgen, und zwar mit Hilfe sogenannter "Red Notices". In den vergangenen Jahren ist ihre Anzahl sprunghaft gestiegen. Wie viele solcher Ausschreibungen erhält Interpol jährlich und wie viele davon werden als politisch motiviert eingestuft und abgelehnt?

Wir haben gegenwärtig pro Jahr ungefähr 14.000 Anträge auf solche "Red Notices". Sie sind ein sehr erfolgreiches und unverzichtbares Instrument bei der Bekämpfung globaler Kriminalität. Die Zunahme dieser "Red Notices" ist nicht sprunghaft, sondern kontinuierlich und geht einher mit der Entwicklung von internationalen Kriminalitätsformen. Wenn Sie heute nationale Polizeichefs fragen, wie viel Prozent ihrer Ermittlungen gegen die organisierte Kriminalität internationale Dimensionen haben, dann bekommen Sie die Antwort: etwa 80 bis 90 Prozent. Die internationale polizeiliche Zusammenarbeit hat zugenommen, weil Verbrecher und Terroristen heute zunehmend global operieren. Es ist relativ nachvollziehbar, dass auch die Zahl dieser "Red Notices" zunimmt.

Wir wollen gemeinsam als internationale Staatengemeinschaft verhindern, dass es sichere Häfen für Kriminelle gibt. Wir möchten aber auch verhindern, dass diese "Red Notices" für andere Zwecke ausgenutzt werden als diejenigen, die nach der Verfassung von Interpol für unsere polizeiliche Zusammenarbeit vorgesehen sind. Das ist die sogenannte Alltagskriminalität. Wir fahnden im Regelfall nach Drogendealern, nach Straftätern, die online Kinder missbrauchen, nach Betrügern, Dieben und Mördern. Das ist das Alltagsgeschäft von Interpol.

Wie viele der 14.000 "Red Notices" pro Jahr werden von Interpol als politisch motiviert abgelehnt?

Die ganz überwiegende Zahl ist rechtlich ohne Probleme. Der Prozentsatz der Ersuchen, die wir ablehnen, ist relativ gering. Es sind häufig auch Fälle, wo wir beispielsweise feststellen, dass nach Leuten gefahndet wird, die irgendwo auf der Welt bereits einen Flüchtlingsstatus genießen. Wir haben vor einigen Jahren eine Resolution verabschiedet, nach der Interpol keine Fahndungsersuchen weitergibt, wenn jemand als Flüchtling in einem unserer Mitgliedstaaten anerkannt ist. Aber wir können nur dann diese Resolution anwenden und ein Ersuchen ablehnen, wenn uns die Mitgliedsstaaten darüber auch systematisch informieren.

China und Russland werden als Länder genannt, denen der Missbrauch der "Red Notice" vorgeworfen wird. Stimmt der Vorwurf, dass Russland immer stärker versucht, über Interpol nach Oppositionellen zu suchen?

Ein internationales Team von Experten, Polizeibeamten und Juristen überprüft jedes einzelne Fahndungsersuchen auf seine Rechtmäßigkeit und Übereinstimmung mit unseren Interpol-Vorschriften, um jede Art von Gebrauch, die nicht mit unseren Regeln übereinstimmt, zu verhindern. Das funktioniert sehr gut.

Nichtsdestotrotz gibt es zum Beispiel unterschiedliche Vorstellungen davon, was Terrorismus ist. Deswegen haben wir gelegentlich auch Meinungsverschiedenheiten mit Mitgliedstaaten, in denen wir als Generalsekretariat sagen, dass wir die Fahndung nicht unterstützen können, weil sie mit unserem begrenzten Mandat nicht in Einklang zu bringen ist. Unsere Aufgabe besteht auch nicht darin, zu validieren, was Staaten national zu machen haben. Wir haben die Souveränität unserer Mitgliedstaaten zu achten und haben uns aus Dingen, die rein national laufen, herauszuhalten.

Wir beobachten die Weltlage sehr intensiv, weil das auch die Grundlage für unseren Prüfmechanismus ist. Meine Mitarbeiter und ich nehmen diese Aufgabe äußerst ernst.

Sie haben Russland kein einziges Mal erwähnt. Daher nochmal die Frage: Stimmt der Vorwurf, dass Russland Interpol missbraucht, um Oppositionelle zu verfolgen?

Wir haben auch in Bezug auf Russland einzelne Ersuchen auf Unterstützung abgelehnt, genauso wie wir auf der anderen Seite mit der Unterstützung Russlands globale Operationen durchgeführt haben. Wir haben Russland mit anderen Polizeiorganisationen in anderen Teilen der Welt verbunden und waren damit in der Lage, durch von Interpol koordinierte Operationen Straftäter hinter Schloss und Riegel zu bringen, bedeutende Mengen von Drogen sicherzustellen, aber beispielsweise auch den sexuellen Missbrauch von Kindern im Internet durch eine Kooperation und Unterstützung auch gerade durch Russland wirkungsvoll zu bekämpfen. Es gibt keine Alternative dazu, dass wir diese Staaten miteinander verbinden, egal welchen Systems.

Belarus hat bei Interpol eine "Red Notice" gegen die frühere Präsidentschaftskandidatin und Oppositionelle Swetlana Tichanowskaja eingereicht, die aber abgelehnt wurde. Tichanowskaja hat gefordert, die Mitgliedschaft von Belarus bei Interpol zu suspendieren. Was halten Sie davon?

Für Belarus gilt wie für alle anderen Länder auch, dass wir im Rahmen unserer Prüfungsmechanismen die Situation sehr sorgfältig beobachten. Das gilt auch für die Veröffentlichung sogenannter "Red Notices". Die Forderung, einzelne Staaten von der internationalen polizeilichen Zusammenarbeit auszuschließen, teile ich ausdrücklich nicht, mit der Begründung, die ich bereits erwähnt habe: Zu einer Plattform, um Basis-Polizeiarbeit zu gewährleisten, gibt keine Alternative. Nur mit ihr können internationale Kriminalitätsformen und Geldwäsche zurückgedrängt werden. Das macht die Arbeit von Interpol heutzutage wichtiger denn je.

Das Gespräch führte Roman Goncharenko.