Iran: Protest-Plattform soziale Netzwerke
15. November 2022Seit vergangener Woche wird in sozialen Netzwerken vor einer bevorstehenden Total-Blockade des Internets im Iran gewarnt. Der Staat will damit, so die Befürchtung, mehrere große Protestversammlungen verhindern, die drei Tage lang, vom 15. bis 17. November, stattfinden sollen. Anlass ist die blutige Niederschlagung der Novemberprostete im Jahr 2019. Damals wurden bei landesweiten Protesten laut Menschenrechtsorganisationen binnen weniger als zwei Wochen etwa 1500 Menschen getötet.
Diejenigen, die jetzt zum Teil unter ihrem eigenen Namen zum Protest aufrufen, wissen, dass sie jederzeit verhaftet oder von Sicherheitskräften verschleppt werden können. So wie der Bruder des inhaftierten Bloggers und politischen Gefangenen Hossein Ronaghi. Hassan Ronaghi hatte am Sonntagabend via Twitter mitgeteilt, dass sein Bruder ins Krankenhaus eingeliefert worden sei. "Wir wissen nicht, in welchem Zustand er sich befindet. Wir haben Angst, dass die Sicherheitskräfte ihn entführen und an einen unbekannten Ort bringen. Bitte kommt und umstellt das Krankenhaus, damit sie Hossein nicht mitnehmen können."
Kurz darauf zirkulierten zahlreiche Videos im Netz, die eine Menschenmenge vor dem Krankenhaus und lange Staus auf den Straßen um das Krankenhaus zeigten. Daraufhin sollen die Sicherheitskräfte versucht haben, Hassan Ronaghi zu verhaften. Er habe sich an einem sicheren Ort versteckt, meldete er zuletzt auf Twitter.
Social Media als Protest-Beschleuniger
"Der Fall zeigt, wie schnell Menschenmengen durch einen Aufruf in sozialen Netzwerken zusammenkommen können", sagt die Internet-Expertin Mahsa Alimardani von der Londoner Organisation "Artikel 19", die sich weltweit für Meinungsfreiheit einsetzt und von der EU-Kommission unterstützt wird. Mahsa Alimardani recherchiert seit elf Jahren über das Internet und die Herausforderungen für freie Kommunikation im Iran.
Bei den Protestwellen in der Vergangenheit hatte der Staat eine Total-Blockade des Internets durchgeführt, um die Kommunikation zwischen den Protestierenden zu verhindern. Diesmal sollen die Behörden bessere technische Mittel zu Verfügung haben und die Vernetzung der Demonstranten gezielt stören können, ohne gleich das gesamte Internet im Iran lahmzulegen. "Diesmal sind die Proteste anders als zuvor", sagt Alimardani im Gespräch mit der DW. "Seit mehr als 50 Tage sehen wir Videos und Bilder von Protestaktionen auf den Straßen, in den Schulen und Universitäten. Die Menschen lassen sich nicht einschüchtern und zeigen ihre Unzufriedenheit. Und immer mehr Frauen zeigen sich ohne Kopftuch in der Öffentlichkeit."
Hierbei spielen auch die sozialen Netzwerke eine wichtige Rolle. Zum Beispiel postete die weltbekannte Schauspielerin Taraneh Alidoosti vergangene Woche ein Foto von sich ohne Kopftuch auf ihrem Instagram-Account. Sie hat knapp acht Millionen Follower auf Instagram. Auf dem Foto hat sie ein Schild in der Hand, mit dem Slogan der Protestbewegung, "Frau. Leben. Freiheit". Zwei Tage später postete sie ein weiteres Fotos von sich, ebenso ohne Kopftuch. Diesmal aber nicht von zu Hause, sondern gemeinsam mit ihrer Tochter in einer Buchhandlung. Ihrem Schritt folgen andere bekannte Schauspielerinnen.
Städte als Kampfgebiete
Protestaktionen finden nicht nur im Internet statt. Immer wieder tauchen regierungsfeindliche Parolen an den Wänden der Städte auf. Bilder von getöteten Demonstranten werden mit Luftballons über den Städten verteilt. Frauen gehen ohne Kopftuch spazieren und verteilen Süßigkeiten an die Menschen auf den Straßen.
Auf die Versammlungen auf den Straßen antworten die Sicherheitskräfte mit aller Härte. Mehr als 300 getötete Demonstranten registrieren Menschenrechtsorganisationen seit Beginn der Proteste; laut Amnesty International sind darunter mindestens 30 Minderjährige.15.000 Teilnehmer der Proteste wurden laut Menschenrechtlern bisher festgenommen. Vor zwei Tagen wurde einer von ihnen wegen Brandstiftung an einer staatlichen Einrichtung sowie Gefährdung der nationalen Sicherheit zum Tode verurteilt. Fünf weitere Personen seien zu Haftstrafen zwischen fünf und zehn Jahren verurteilt worden, erklärten die iranischen Justizbehörden am Sonntag.
Proteste in Kurdistan ermutigen Iraner
Trotzdem gehen die Protestaktionen weiter, mit einem Schwerpunkt in der Provinz Kurdistan im Westen des Irans. "Menschen schließen sich dort zum Beispiel ohne Vorankündigung Streiks an. Diese Streiks umfassen nicht nur den Basar. In vielen Fällen gehen Schüler und Angestellte auch nicht in Schulen und Büros," schreibt der kurdische Journalist Kaveh Ghoreishi auf Anfrage der DW. "In Kurdistan gibt es eine eigene Protestkultur, die sich in den letzten Jahrzehnten herausgebildet hat. Sie hat ihre Wurzeln in der Geschichte von Kämpfen und Widerstand gegen die systematische Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung unter dem Schah und auch nach der Islamischen Revolution von 1979 unter dem aktuellen Regime. In Kurdistan ist eine dynamische Zivilgesellschaft mit politischen Parteien zustande gekommen, die sich gut organisieren kann."
Die Bilder und Videos von Streiks oder Versammlungen in Kurdistan verbreiten sich wie ein Lauffeuer im Internet, und ermutigen Iraner im ganzen Land. Videos aus dem Iran zeigen, dass in vielen Städten die Basare geschlossen sind und sich die Händler den Streiks angeschlossen haben. Die Regierung in Teheran wirft den kurdischen Gruppen im Nordirak vor, die Proteste im Iran zu unterstützen und verübt Raketenangriffe auf den Nordirak, zuletzt am vergangenen Montag. Dabei wurden Stützpunkte kurdischer Oppositionsgruppen getroffen und mindestens ein Mensch getötet, wie kurdische Vertreter mitteilten. Acht weitere Menschen wurden demnach verletzt.