1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Inklusion in Deutschland: Da geht noch was

Matilda Jordanova-Duda
14. August 2023

Rund 1,5 Millionen Menschen mit Schwerbehinderten-Ausweis stehen dem regulären Arbeitsmarkt in Deutschland zur Verfügung. Aber fast jeder neunte ist arbeitslos.

https://p.dw.com/p/4Urgu
Presswerk Struthütten PWS: Heiko Meyer (links) in seinem Prüflabor mit seinem damaligen Ausbilder Markus Petri
Presswerk Struthütten PWS: Heiko Meyer (links) in seinem Prüflabor mit seinem damaligen Ausbilder Markus PetriBild: Daniel Roth

Ein schwerer Sturz mit dem Fahrrad veränderte Heiko Meyers Leben schlagartig. Die Ärzte diagnostizierten einen Genickbruch, als sie ihn in den Krankenwagen hoben. 2014 war das. Nach der Reha konnte er zwar wieder laufen und Rad fahren. Aber die rechte Hand tut ab und zu nicht mehr, was sie soll. Und schwindelfrei ist Heiko Meyer auch nicht mehr.

Von seinem Beruf als Schornsteinfeger musste er sich deswegen verabschieden und mit knapp 40 etwas Neues lernen. Beim Presswerk Struthütten (PWS) bekam er die Chance, eine verkürzte zweijährige Ausbildung zum Werkstoffprüfer zu machen. Die Arbeitsagentur bezahlte die Umschulung.

Heiko Meyer in seinem Prüflabor
Heiko Meyer in seinem PrüflaborBild: Daniel Roth

Seit vier Jahren arbeitet er nun im Labor des Fahrzeugzulieferers aus dem Siegerland. Die rund 180 Mitarbeiter von PWS fertigen Baugruppen für Autos, Nutzfahrzeuge und Heiztechnik. Meyer prüft zum Beispiel die Qualität der Schweißnähte und die Festigkeit des Materials. Der Arbeitsplatz wurde speziell für ihn eingerichtet. Er sägt die Probestücke durch und legt sie unter ein Mikroskop, um Abweichungen im Mikrometerbereich erkennen zu können. Die meiste Arbeit erledigt er am Computer: Die Ausfallerscheinungen der rechten Hand machen sich da weniger bemerkbar und die verletzte Wirbelsäule wird geschont. "Es war die richtige Berufswahl", meint er.

Hohe Arbeitslosigkeit trotz Fachkräftemangel in Deutschland

Insgesamt sechs PWS-Beschäftigte haben einen Schwerbehinderten-Ausweis. Damit erfüllt das mittelständische Familienunternehmen die gesetzlich vorgeschriebene fünfprozentige Quote nicht ganz. Das gilt übrigens für 60 Prozent von rund 173.000 Unternehmen in Deutschland, die diese Vorgabe betrifft. Ein Viertel beschäftigen keinen einzigen Menschen mit geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen, so das Inklusionsbarometer 2022 von Aktion Mensch. Sie zahlen lieber die volle Ausgleichsabgabe - und verschenken trotz Fachkräftemangel viel Potenzial.

Das neue Inklusionsgesetz, das 2024 in Kraft tritt, wird daher die Arbeitgeber stärker in die Pflicht nehmen: Sich freizukaufen wird doppelt so teuer. Die Mittel aus der Ausgleichsabgabe sollen für die Förderung der Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt genutzt, Leistungen schneller genehmigt und die Lohnkostenzuschüsse nicht mehr gedeckelt werden.

Heiko Meyer in seinem Prüflabor beim Einlegen eines Teststücks in die Prüfmaschine
Heiko Meyer in seinem Prüflabor beim Einlegen eines Teststücks in die PrüfmaschineBild: Daniel Roth

Praktikum zeigt, was geht

"Ob das Gesetz schärfer oder weniger scharf ist, ist für uns nicht unbedingt von Bedeutung", sagt Markus Petri, Ausbildungsleiter von PWS. "Wenn wir einen Menschen mit Behinderung bei uns in der Nähe haben, schauen wir, wie wir ihn am besten einsetzen können." Ein mehrwöchiges Praktikum hilft beiden Seiten einzuschätzen, was geht und was nicht.

Heiko Meyer wurde etwa nach seiner Genesung als Produktionshelfer vermittelt, "aber dafür war er zu schade, weil er technisch so begabt ist". Deshalb habe man ihm die Umschulung nahegelegt. Auch einen Jugendlichen mit Lern- und Kommunikationsschwierigkeiten hat Petri erfolgreich zum Teileausrichter ausgebildet. Als der Junge freudestrahlend vom Praktikum nach Hause kam, hätten die Eltern alle Hebel in Bewegung gesetzt, um ihm die Ausbildung bei PWS zu ermöglichen. "Er wäre sonst in einer Behindertenwerkstatt gelandet, aber das wäre zu fad für ihn gewesen. So hat er eine super Abschlussprüfung hingelegt", erinnert sich Petri.

Auch das gemeinnützige IT-Unternehmen AfB in Ettlingen schafft Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung.
Auch das gemeinnützige IT-Unternehmen AfB in Ettlingen schafft Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung.Bild: AfB/epd-bild/Uli Deck

Arbeitgeber, die Menschen mit Behinderung beschäftigen, haben laut Inklusionsbarometer meist positive Erfahrungen gemacht: 80 Prozent geben an, keine Leistungsunterschiede wahrzunehmen. Gute Erfahrungen öffnen in der Regel die Tür für weitere Bewerber und Bewerberinnen mit Behinderung: So hat der Softwarekonzern SAP die Initiative Autism at Work gestartet, nachdem sich fünf autistische IT-Spezialisten an einem indischen Standort des Software-Konzerns als Glücksgriff erwiesen hatten.

Keine Wohltätigkeit, sondern Marktwirtschaft

"Wir sind ein Industrieunternehmen und müssen Geld verdienen", heißt es bei Schrimpf & Schöneberg. Das Unternehmen der Springtec-Gruppe produziert Druck-, Zug- und Schenkelfedern, die etwa in Rückbankverriegelungen und Heckklappenschlössern stecken. Als Autozulieferer steht es in einem harten internationalen Wettbewerb: Die zahlreichen Mitarbeitenden mit Behinderung helfen ihm dabei.

Das Familienunternehmen aus Iserlohn (Nordrhein-Westfalen) ist ein sogenannter Inklusionsbetrieb mit einem hohen Anteil an Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen in der Belegschaft. Hier sind es 18 von knapp 100 Beschäftigten. Die meisten arbeiten in der Schleiferei, wo die Maschinen für kleinere Aufträge von Hand bestückt werden. Es sind kompetente, oft sogar besonders motivierte Kollegen, die ihr volles Arbeitspensum in Schicht leisten.

Ulrike Gehn arbeitet vom Homeoffice aus bei der Firma Kopf, Hand + Fuß gGmbH. Die Berliner Firma berät Unternehmen in Sachen Inklusion und betreibt einen gemeinsamen Coworking Space für Menschen mit und ohne Behinderung.
Ulrike Gehn arbeitet von zu Hause aus bei der Firma Kopf, Hand + Fuß gGmbH. Die Berliner Firma berät Unternehmen in Sachen Inklusion und betreibt einen gemeinsamen Coworking Space für Menschen mit und ohne Behinderung.Bild: Britta Pedersen/dpa/picture alliance

Vor Jahren hatte Schrimpf & Schöneberg überlegt, einfache Arbeiten wie das Schleifen, Setzen und Verpacken nach Osteuropa auszulagern. Doch die Firma fürchtete Qualitätsprobleme. Auch mit Schülern und anderen Aushilfen lief es nicht lange gut. So begann die Zusammenarbeit mit den Iserlohner Behinderten-Werkstätten. Mit der war das Unternehmen so zufrieden, dass es 2009 eine Integrationsabteilung bei sich im Haus einrichtete. Der Mittelständler steckte damals etwa 380.000 Euro in die Anschaffung von Technik und den Umbau von Umkleiden, Toiletten und den 12 Arbeitsplätzen. Die Hälfte des Geldes kam aus Fördermitteln. Zudem gibt es Betreuungsgeld und laufende Lohnzuschüsse.

Vorsorglich barrierefrei bauen

Menschen mit Beeinträchtigungen stehen fünf Urlaubstage mehr zu, auch der Krankenstand ist etwas höher. Manche können die Maschinen nur im Sitzen bedienen, andere würden einen ruppigen Umgangston oder ständig wechselnde Aufgaben nicht verkraften. Es braucht auch einen Ansprechpartner im Betrieb, der sich speziell um ihre Belange kümmert. Aber die Inklusionsabteilung ist weder eine Insel noch Endstation. Wer gut ist, kann sich weiterbilden und in andere Abteilungen wechseln. In der Freizeit gibt es Fahrgemeinschaften, Fußballfans gehen zusammen ins Stadion.

Die gute Nachricht aus dem Inklusionsbarometer lautet: 33 Prozent mehr Menschen mit Behinderung arbeiten in Kleinbetrieben als noch 2015. Und das, obwohl über 40 Prozent der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) die staatliche Förderung nicht kennen. Die neuen Einheitlichen Ansprechstellen für Arbeitgeber (EAA) sollen künftig Firmen und geeignete Bewerber zusammenbringen und die Beratungs- und Unterstützungsleistungen bekannt machen. Idealerweise sollten sich Unternehmen schon präventiv um Barrierefreiheit bei Neu- und Umbauten oder bei Hard- und Software kümmern, empfiehlt Aktion Mensch. Davon würden die alternden Belegschaften insgesamt profitieren.

Schließlich sind nur drei Prozent aller Behinderungen angeboren, nur wenige entstehen durch Unfälle. Die meisten Menschen bekommen sie im Laufe des Berufslebens, weil eine Krankheit dazukommt oder sich verschlimmert.

Jobs für Menschen mit Behinderung