Leben in Indiens Geisterdörfern
7. August 2019Seit drei Monaten hat Meera Sadagar ihren Ehemann nicht mehr gesehen. Vor zehn Jahren musste er seine Sachen packen und anfangen, 200 Kilometer entfernt in einer Fabrik zu arbeiten. Seitdem kommt er nur noch selten heim. Die 35-jährige Mutter von fünf Kindern scheint das nicht aus der Bahn zu werfen. Dass die Männer nicht da sind, gehört zum Leben dazu hier in Hatkarwadi, einem kleinen Dorf in den Hügeln des indischen Bundesstaates Maharashtra.
"Es ist in jedem Haushalt dasselbe", sagt Meera und balanciert währenddessen auf der einen Seite ihrer Hüfte ein Kind, auf der anderen einen leeren Wasserbehälter. "Alte Männer und Frauen, ihre Schwiegertöchter – das sind die einzigen Leute, die hier noch leben. Alle anderen gehen weg und versuchen, woanders Arbeit zu finden."
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Es ist schwierig, an offizielle Daten zu kommen, aber die älteren Dorfbewohner schätzen, dass Hatkarwadi vor ein paar Jahrzehnten noch über 1200 Einwohner hatte. Diese Zahl ist inzwischen auf nur 250 geschrumpft. Der Grund: Dürreperioden und damit verbunden eine anhaltende Wasserkrise in der Region. Sie haben zu Ernteausfällen und Armut geführt und damit viele Menschen gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen.
"Früher hat es genug geregnet, manchmal zwei- oder dreimal am Tag", erinnert sich der 80-jährige Ganpat Bandgar, der seit dem Tod seiner Frau alleine im Dorf lebt. "Jetzt regnet es gar nicht mehr."
Während des Sommers ist Hatkarwadi so gut wie leer. Die meisten Dorfbewohner verriegeln ihre Häuser und reisen in teils mehrere hundert Kilometer entfernte Großstädte, um dort als Saisonarbeiter auf dem Bau oder in Zuckerrohrfabriken anzuheuern.
Ganpat Bandgar fühlt sich dann oft einsam. Er ist traurig, dass sein Dorf immer leerer wird, aber er würde selbst niemals wegziehen. "Ich habe hier 80 Jahre gelebt, ich kenne nichts anderes", sagt er. Seine zwei Söhne arbeiten beide in einer Fabrik mehrere hundert Kilometer entfernt.
Wenn das Wasser versiegt
In Dörfern in ganz Maharashtra ist die Geschichte die gleiche: 72 Prozent der Landkreise des Bundesstaates waren dieses Jahr von Dürre und Ernteausfällen betroffen. Das ist Teil einer langfristigen Entwicklung. Im Landkreis Beed, in dem Hatkarwadi liegt, hat der Niederschlag nach Angaben des Meteorologie-Instituts Indiens IMD im gesamten vergangenen Jahrzehnt abgenommen.
Momentan ist die Migration aus dem Landkreis meist nur saisonal: Die Menschen ziehen für sechs bis neun Monate im Jahr weg und kommen in der Regenzeit wieder, wenn sie aussäen können.
In den Gegenden, die am stärksten von der Dürre betroffen sind, bleiben aber auch während des Monsuns die Dörfer leer. In Hatkarwadi haben 80 Prozent der Dorfbewohner eine dauerhafte Arbeit außerhalb gefunden und kommen nur noch wieder, um Familienangehörige zu besuchen.
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Ungefähr 20 Brunnen hat das Dorf, doch die sind alle versiegt. Die einzige Trinkwasserquelle in Hatkarwadi ist ein Bohrloch, 122 Meter tief. Um das Wasser hoch zu pumpen, ist allerdings Strom nötig - und zwar mehr, als das Dorf täglich zur Verfügung hat. So bleiben den Frauen nur wenige Minuten, um Wasser zu holen, bevor die Stromversorgung unterbrochen wird und das Wasser aufhört zu fließen.
Was es noch schlimmer macht: Wenn die Wasserversorgung über das Bohrloch nicht funktioniert, gibt es keinen Plan B. Denn die Straßen hoch nach Hatkarwadi sind so schmal und kurvig, dass die Wassertransporter es nicht dorthin schaffen. Dann sitzen die Dorfbewohner sprichwörtlich auf dem Trockenen.
"Das Problem ist sehr ernst. Auch vor 10 Jahren gab es wenig Regen, aber in den vergangenen zwei bis drei Jahren hat es fast gar nicht mehr geregnet", sagt Melvin Pangya. Er arbeitet als Koordinator für die Nichtregierungsorganisation Caritas und versucht, im Bundesstaat Maharashtra die Dürre bedingte Migration einzudämmen. "In manchen Dörfern gibt es nur noch alte Menschen, weil ganze Familien weggegangen sind. Wenn es keinen Regen und kein Wasser gibt, was können sie dann tun? Sie können wegziehen und woanders Arbeit suchen. Das sind die Optionen."
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Schlechtes Wassermanagement und politische Strategien werden dafür verantwortlich gemacht, bestehende Dürren zu verschlimmern: denn die Regierung unterstützt den Anbau kommerzieller Feldfrüchte mit Subventionen, Investitionen und intensiven Bewässerungssystemen. Zuckerrohr zum Beispiel benötigt 2000 Millimeter Regen während eines Wachstumszyklus – fünfmal mehr als Pflanzen, die traditionell zur Selbstversorgung angebaut werden. Den Zuckerrohrfabriken, die viele der Dorfbewohner anstellen, wurde daher vorgeworfen, das zu verschlingen, was an Regen und Grundwasser noch übrig ist.
Die Einwohner von Hatkarwadi sind felsenfest davon überzeugt, dass das Problem einzig der mangelnde Regen sei – nicht die Pflanzen, die sie anbauen. Denn auf den Feldern rund um das Dorf wachse nur Hirse, sagen sie. Und das ist ein traditionelles Grundnahrungsmittel, das seit Jahrhunderten zur Selbstversorgung dient. "Wir können es uns nicht leisten etwas anzubauen, was für den Verkauf bestimmt ist", erklärte ein Einwohner.
Ein einsames Leben
Eine Hitzewelle, die dieses Jahr über das Land hinweggefegt ist, brachte Temperaturen von über 50 Grad Celsius und hat allein im Bundesstaat Maharashtra neun Tote verursacht. Und die Zustände werden sich wohl noch verschlechtern. Laut einem Bericht des Weltklimarats IPCC wird der Klimawandel wahrscheinlich die Häufigkeit und Stärke der Dürren in Indien noch erhöhen. Die jährliche Durchschnittstemperatur wird bis 2030 um 1,7 bis 2,2 Grad Celsius ansteigen.
Im Juni dieses Jahres hat Premierminister Narendra Modi einen Plan vorgestellt, um alle indischen Haushalte bis zum Jahr 2024 mit fließendem Trinkwasser zu versorgen. Nachdem er dieses Jahr wiedergewählt wurde, hat seine Regierung versprochen, dass die Bewältigung der Wasserkrise höchste Priorität habe. Für die Menschen in Hatkarwadi könnten fünf Jahre des Wartens bis 2024 aber zu viel sein.
Ganesh Sadgar, ein 27-jähriger Uni-Absolvent, der im Dorf aufwuchs, sucht seit drei Jahren nach einer Frau und ist kurz davor aufzugeben. Keine der Frauen, an denen er Interesse hatte, war bereit, zu ihm zu ziehen – so wie es in Indien Brauch ist. Denn deren Eltern machten sich große Sorgen, was mit ihren Töchtern wohl passieren würde, in einem Dorf ohne Wasser.
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Und wenn er doch einmal eine Frau überzeugt, ihn besuchen zu kommen, gibt es noch nicht einmal genug Wasser, damit sie sich die Hände waschen kann, klagt er mit einem Seufzen. "Sie besuchen mich einmal und kommen dann nie wieder." Vor einem Jahr ist er daher in eine 150 km entfernte Stadt gezogen und arbeitet dort in einer Butterfabrik. Nun kommt er nur noch ein- bis zweimal im Jahr, um seine Eltern zu besuchen und die Felder zu kontrollieren.
Frauen, die Männer aus Hatkarwadi heiraten, bleiben oft zurück, wenn ihre Ehepartner notgedrungen das Dorf verlassen und woanders Arbeit suchen. Die Frauen müssen sich dann um alte Schwiegereltern kümmern oder Kinder, die zu jung zum Reisen sind. Für Meera Sadagar bedeutet das die doppelte Last: Neben dem normalen Haushalt muss sie sich auch noch um die Felder der Familie kümmern. "Ich muss die ganze Arbeit alleine machen: das Wasser holen, die Kinder für die Schule fertig machen, kochen. Es gibt nie genügend Essen, es gibt nie genügend Zeit."
Auf die Frage, wann sie ihren Ehemann das nächste Mal sehen wird, deutet sie ausweichend auf das ausgedörrte Land hinter ihrem Haus und sagt: "Er wird kommen, wenn es regnet."