1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"In Weißrussland werden die Schrauben immer fester angezogen"

29. August 2002

– Demokratische Opposition und Journalisten fühlen sich immer stärker verfolgt

https://p.dw.com/p/2b5Z

Minsk, 29.8.2002, BELARUS TODAY, russ., nach BELARUSSKAJA DELOWAJA GASETA

"Seine Unterstellten verfolgen, nehmen fest, entlassen und schlagen regelmäßig Leute zusammen, die auch nur ganz entfernt etwas mit der Opposition während der Präsidentschaftswahlen im letzten Jahr zu tun hatten", schreibt die Zeitung "Washington Post". Lukaschenka, der des Öfteren als letzter europäischer Diktator bezeichnet wird, hat sich mit seinem einzigen Verbündeten, mit Russland, zerstritten und hat allem Anschein nach nicht vor, Reformen in der Gesellschaft durchzuführen. Ganz im Gegenteil bereitet er nach Ansicht der Oppositionsführer, westlicher Diplomaten und unabhängiger Beobachter eine gewaltige Repressionswelle vor.

"In den sieben Jahren der Regentschaft ein und derselben Person werden wir zum ersten Mal so stark verfolgt", erklärte Schanna Litwina, die Präsidentin des Weißrussischen Journalistenverbandes. "Wir werden für den Standpunkt bestraft, den wir während der Präsidentschaftswahlkampagne vertraten. Lukaschenka hatte versprochen, mit den nicht Genehmen Tacheles zu reden, was er auch tut."

In den letzten Monaten hat sich Lukaschenka einige potentielle Feinde vorgenommen, zu denen auch ein Netz von "McDonalds"-Restaurants, die europäischen diplomatischen Missionen und der ehemalige Gewerkschaftsführer gehören, der es gewagt hatte, ihn bei den Wahlen im letzten Jahr herauszufordern. Die unabhängige Zeitung "Pagonja" ist geschlossen worden, weil sie über den Wahlkampf berichtete. Eben damals machte der Staat zum ersten Mal vom Strafgesetzbuch Gebrauch, um Journalisten zu verfolgen, die der Verleumdung des Präsidenten verdächtigt wurden. Es kam auch zu anderen, weniger auffallenden Zwischenfällen, die nach Ansicht der Aktivisten der Jugendorganisation für das heutige Weißrussland typisch sind. Ein solcher Zwischenfall war die Festnahme eines Mitglieds der Jugendbewegung "Subr". Der Festgenommene war zwei Tage lang in einer unerträglich stickigen Zelle untergebracht, wonach der vorher gesunde 21-Jährige mit Herzproblemen in ein Krankenhaus eingeliefert werden musste. Um 4 Uhr morgens wurde von Passanten der von Unbekannten zusammengeschlagene und bewusstlose Ehemann von Walentina Polewikowa, der Managerin des Wahlkampfs der Opposition, aufgefunden. Polewikowa ist der Meinung, dass "die Schrauben immer fester angezogen werden". Lukaschenka, der Anhänger von Hitler und Stalin, regiert das Zehn-Millionen-Land autoritär. Er verkündete seinen Sieg bei den Wahlen am 9. September letzten Jahren. Die Wahlen hält die OSZE weder für frei noch für gerecht. Zwei Tage später richtete sich die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit auf die Terroranschläge in den USA, deshalb ist es Lukaschenka gelungen, sein Vorhaben ohne Hindernisse umzusetzen.

Als der Präsident Russlands, Wladimir Putin, der in die amerikanische Antiterror- Koalition einbezogen wurde, den Kurs gen Westen bekanntgab, verlor Lukaschenka auch die Unterstützung seines wichtigsten Verbündeten. "Heute ist er viel stärker isoliert als vor einem Jahr", erklärte ein hoher Diplomat in Minsk. In der letzten Woche zeigte Putin Lukaschenka eindeutig, wie Russland jetzt mit Weißrussland umgehen wird. Mehrere Jahre hindurch setzte sich Lukaschenka für die Gründung eines Unionsstaates ein und träumte davon, eines Tages an der Spitze einer Großmacht zu stehen, diese aus dem Kreml zu regieren. Eine gewisse Zeit spielte Putin ihm zu, bezeichnete die Politik von Lukaschenka jedoch letzten Mittwoch als Bluff und schlug Weißrussland vor, im kommenden Jahr ein Referendum über den Anschluss an Russland durchzuführen.

Bereits am gleichen Tag fingen die Aktivisten an, Flugblätter über die Gefahr einer russischen Okkupation zu verteilen. Nach seiner Rückkehr nach Minsk bezeichnete Lukaschenka die Vereinigung, an der er seinerzeit so heftig arbeitete, als "nicht annehmbar". Das bedeutet, dass jetzt im Osten Weißrusslands ein anderes Russland liegt. Im Westen bereiten sich zwei weitere Nachbarn – Litauen und Lettland – nach dem Beispiel Polens auf die NATO-Mitgliedschaft vor, was den Kritikern von Lukaschenka seinerzeit ermöglichte, mit den Worten des US-Botschafters Michael Kozak zu erklären, dass Minsk sich in ein schwarzes Loch in Europa verwandelt, das Moskau und Warschau trennt.

"Lukaschenka versteht, dass er jetzt viel mehr Probleme hat als vor den Wahlen", erklärte der Koordinator der Bürgerinitiative "Charta‘97", Andrej Sannikow. "Den einzigen Ausweg aus den Problemen sieht er in der Verschärfung der Kontrolle und der Unterdrückung der ihm nicht passenden Gedanken." Ungeachtet der diplomatischen Probleme von Lukaschenka im Westen haben es die Weißrussen nicht eilig, der autoritären Führung ein Ende zu bereiten. Jedenfalls gibt es davon heute viel weniger als während der Präsidentschaftswahlen im letzten Jahr, als sogar diejenigen, die nicht auf die Straßen gingen, "insgeheim hofften, dass sich die Situation ändern wird", erklärte der Filmregisseur Jurij Chaschtschewazkij. "Heute ist die Lage viel schlimmer als vor den Wahlen", ist Jurij Chaschtschewazkij überzeugt, der vor einigen Jahren von Unbekannten zusammengeschlagen wurde, wobei ihm beide Beine gebrochen wurden. Das war Rache für seine scharfe Kritik an Lukaschenka im Film "Gewöhnlicher Präsident". Im Frühjahr dieses Jahres verbrachte er zehn Tage im Gefängnis, weil er an einer Protestaktion teilgenommen hatte. Damals war er einige Stunden nach seiner Rückkehr vom Prager Internationalen Filmfestival über den Schutz der Menschenrechte festgenommen worden. "Die versuchen die noch vorhandenen oppositionellen Strukturen zu zerstören", sagte Chaschtschewazkij.

Diese Politik hat einigen Angaben zufolge einen bestimmten Effekt erzielt. Die Zahl der Bürger, die an Protestaktionen teilnehmen, ist sehr gering. Die Reihen der oppositionellen Strukturen haben sind ziemlich gelichtet. Sogar die eifrigsten Gegner von Lukaschenka wissen nicht mehr genau, welchen Kurs sie befolgen sollen. "Wir sind weder für noch gegen ihn", sagte die Studentin Nadja, 21 Jahre alt, die wir bei "McDonalds" ansprachen, einem der Restaurants, die Lukaschenka zu schließen versucht, da das Essen in den amerikanischen Bistros den Weißrussen angeblich nicht bekommt. Ähnlicher Meinung wie Nadja sind die meisten Weißrussen. Die Oppositionspolitiker beschweren sich, dass die Mitglieder ihrer Parteien demoralisiert sind, dass sie einen neuen Vorgehensplan erarbeiten müssen.

Das letzte Jahr wurde für die oppositionellen Führer durch das gekennzeichnet, was sie als "Vergeltung für die Wahlkampagne gegen den Präsidenten" bezeichnen. Wladimir Gontscharik, der einzige Kandidat der Opposition, der bei den seiner Meinung nach gefälschten Wahlen lediglich 15 Prozent der Stimmen erhielt, betonte, dass im politischen Leben des Landes Säuberungen ähnlich denen stattfinden, die russische Soldaten in Tschetschenien durchführen. Nach den Wahlen wurde Gontscharik aus dem Amt des Vorsitzenden der Gewerkschaftsföderation entfernt und konnte auf dem Territorium Weißrusslands keine Arbeit mehr finden. Derzeit arbeitet er in Moskau.

Eine Vergeltungsaktion wurde auch gegen die Managerin des Wahlkampfs von Gontscharik, Polewikowa, organisiert. Wie Gontscharik war auch sie im letzten Jahr gezwungen, ihr Amt bei den Gewerkschaften aufzugeben. In diesem Sommer wurde ihr Ehemann zusammengeschlagen. Jetzt, so Polewikowa, versuchen die Machtorgane die Frauenpartei an die Kandare zu nehmen, an deren Spitze sie steht. Deren Anhängern wird mit Vergeltung gedroht, es werden Gerüchte über die nicht sachgerechte Nutzung von Gewerkschaftsgeldern während des Wahlkampfs verbreitet. "Ein Drittel meiner Partei besteht aus Gewerkschaftsfunktionären. Lukaschenka hat bereits die Gewerkschaften unter seine Kontrolle gestellt, jetzt wird diesen Leuten gedroht", sagte Polewikowa. (...)

Nirgendwo ist jedoch der Druck des Regimes so stark zu spüren, wie bei den unabhängigen Medien. So ist die Zeitung "Pagonja" auf Zuspiel der Machtorgane in diesem Jahr geschlossen worden, weil sie während des Präsidentschaftswahlkampfs Material über die Beziehungen von Lukaschenka zu Entführern und Mördern der verschollenen Oppositionellen veröffentlicht hatte. In der letzten Woche nahm sich das Gericht die Berufung der zwei Journalisten vor, die dieses Material vorbereitet hatten und jetzt gegen das Gerichtsurteil – zwei und zweieinhalb Jahre Freiheitsentzug – klagen. In einem anderen Fall ist die Zeitung "Nascha swaboda" verurteilt worden, noch in diesem Monat ein Schmerzensgeld von 55 000 Dollar an einen hohen Beamten wegen angeblich falscher Angaben zu zahlen. Die Zeitung, die nicht imstande ist, die für unser Land mit einem Durchschnittsgehalt von 100 Dollar hohe Strafe zu bezahlen, hat ganz einfach aufgehört zu erscheinen.

"Wir verlieren eine unabhängige Zeitung nach der anderen", erklärte Aleksej Korol, der Chefredakteur der Zeitung "Sgoda", in dessen Büros kürzlich von Unbekannten eingebrochen wurde. Ungeachtet der Tatsache, dass Lukaschenka in seinem letzten Fernsehinterview von einer Kampagne der unabhängigen Medien gegen die Machtorgane gesprochen und gefordert hatte, mit diesen Tacheles zu reden, streiten die höchsten Staatsbeamten Weißrusslands ab, dass im Land Kritiker des Regimes verfolgt werden. "Bei uns in Weißrussland gibt es keine Probleme mit der Freiheit des Wortes", erklärte Informationsminister Michail Podgajnyj. In einem Zeitungsinterview verhöhnte Podgajnyj die unabhängigen Zeitungen abwechselnd wegen ihrer niedrigen Auflage und beschuldigte sie, die Interessen der amerikanischen Regierung zu vertreten. (lr)