In der Roma-Musik klingt Europa
11. August 2023DW: Maestro Sahiti, gibt es so etwas wie das Leitmotiv Ihres Lebens?
Riccardo M. Sahiti: Als Kind habe ich nicht gewusst, was mich in meinem Leben erwartet, aber ich habe immer Interesse an klassischer Musik gehabt. Wir hatten ein kleines Radio und haben immer ernste Musik gehört. Da war ich immer wie in einer anderen Welt. Ich stand vor dem Spiegel und fing an zu dirigieren. Und meine Schwestern und Eltern sagten: Was ist los mit ihm? Ich wusste nicht, was das bedeutete, was mich erwartete. Aber ich hatte es schon immer in meinem Herzen.
Gibt es ein Werk oder Komponisten, die Sie besonders inspiriert haben?
Ja, ich schätze Beethoven sehr als ein Vorbild für mich - und auch für die Welt. Seine fünfte Symphonie, die vierte, die siebte... In der siebten Symphonie gibt es auch Roma-Motive im letzten Satz, im Finale. Da muss ich die Aufnahme von Carlos Kleiber hervorheben, wie er mit viel Emotion, mit Leidenschaft und Strahlkraft die Idee dieser Werke ausdrückt. Und dann wäre selbstverständlich die Romantik, Dvorak, die achte oder die neunte Symphonie. Auch die Musik von Franz Liszt, die 2. Ungarische Rhapsodie, in der es eine Passage a la Zingarese im Stil der Roma-Musik gibt.
Was ist denn für Sie Roma-Musik? Oder was ist a la Zingarese? Was drückt das aus für Sie?
Früher wusste ich das vielleicht nicht, aber heute, nach 20 Jahren Erfahrung mit den Roma und Sinti Philharmonikern, kann ich sagen: Das ist die Musik, die zuerst von Roma gespielt wurde, in verschiedenen europäischen Ländern wie zum Beispiel in Ungarn. Die so genannte Volksmusik war vielfach Roma-Musik.
So wie Bartok oder Kodaly vermeintlich ungarische Volksmusik aufzeichneten, die eigentlich Roma-Musik war?
So ist das. Kodaly berichtet, dass er als junger Mann oft mit dem Zug von Galanta (Stadt in der heutigen Slowakei) nach Wien gefahren ist. Immer hat er dabei Lieder der Roma gehört. Diese Lieder hat er unter dem Titel "Tänze aus Galanta" orchestriert, und er hat diese dann einem ungarischen Orchester als Geschenk überreicht. Oder hören Sie Brahms, seine "Ungarischen Tänze". Wir haben daraus die Nr. 4 in fis-Moll am Römerplatz aus Anlass des 600. Jahrestags der ersten urkundlichen Erwähnung der Roma in Frankfurt am Main aufgeführt. Einige sagten: Das sind ungarische Tänze. Natürlich, das sind auch ungarische Tänze, aber in diesen ungarischen Tänzen - wie im vierten, fünften, sechsten - ist Roma-Musik.
Das gleiche gilt für Rumänien. Rumänische Volksmusik ist auch sehr beeinflusst von der traditionellen Roma-Musik. Und diese traditionelle Musik hat auch George Enescu gehört, sie hat ihn interessiert und er hat sie kompositorisch in seiner Ersten Rhapsodie aufgegriffen. Das gilt auch für andere Komponisten. Im 19. Jahrhundert waren Wien, Budapest und Prag die vielleicht wichtigsten Stätten für die romantische Musik, - und sie waren beeinflusst von Roma-Musikern wie Janos Bihari. Bihari war ein großer Musiker, er hatte ein Ensemble mit Geige, Viola, Kontrabass, auch Klarinette, Zymbal.
Das ist ja auch ein ganz typisches Ensemble für damalige Unterhaltungsmusik...
So ist das. Es gibt so einen historischen Moment in Wien, beim Weltkongress, wo er gespielt hat. Und Beethoven hat ihn gehört.
Roma-Tradition und Klassik
Im Gegensatz zu diesen Ensembles haben Sie ein ganzes Symphonieorchester zusammengestellt, die Roma und Sinti Philharmoniker. Was ist das Besondere an dem Orchester?
In meinem Orchester sind alle professionell ausgebildete Musikerinnen und Musiker. Es sind Roma, aber sie spielen in internationalen Profi-Orchestern. Da gibt es zum Beispiel Musiker, die im Wiener Opernhaus spielen, als Solo-Cellist im MDR-Orchester in Leipzig, als Konzertmeister in Gotha. Viele kommen aus Ungarn, d.h. dank dieser Tradition mit Kodaly und Bartok gibt es viele Roma, die an der Franz-Liszt-Akademie in Budapest ihr Studium abgeschlossen haben. Die Musiker sind wie unsere musikalischen Nachkommen, die diese Musik weitertragen, - gleichzeitig ernste Musik und Volksmusik von ihrem Opa oder Uropa und von ihrem Vater.
Was bedeutet das, wenn jemand aus einer Roma-Tradition heraus dann professioneller klassischer Musiker wird? Was ist das für ein Spirit, was macht das atmosphärisch in der Orchesterarbeit für Sie?
Bei unseren Proben wird immer viel diskutiert. Jemand sagt zum Beispiel: "Liszt hat das so geschrieben." Dann sagen andere: "Das ist nicht das richtige Tempo, wie es da bezeichnet ist." Viele kommen aus der Tradition, in der sie und ihre Familie seit Jahrhunderten nur in kleinen Ensembles gespielt haben. Da haben sich bestimmte Spielweisen und Tempi tradiert. Dann komme ich als Dirigent mit meiner Bildung, meinem Studium und mit meiner Erfahrung - und der Expertise verschiedener Professoren. Die verschiedenen Traditionen und die klassische Art treffen aufeinander. Und dann wird diskutiert! Und wenn wir zum Beispiel George Enescu (aus Rumänien) spielen, dann sagen einige Roma aus Rumänien: "Das ist unsere Musik!". Und wenn wir ein anderes Tempo spielen, dann sagen Sie: "Nein, nein, wir spielen das wie Klassik, nein, nein!", - und so geht es hin und her. Aber am Ende entsteht eine Interpretation, die nicht unbedingt so ist, wie ich sie mir am Anfang vorgestellt hatte. Am Ende kommt immer noch eine weitere Dimension hinzu.
Dieses Orchester, diese Musiker - sie sind wie Botschafter. Sie zeigen, was uns seit Jahrhunderten verbindet: Das Erbe ist Musik, die Musik von diesem Volk der Roma, die in vielen europäischen Ländern ihre Heimat haben. Sie sprechen die Sprache ihrer Heimatländer, sie haben die Tradition, Kultur, Religion angenommen, aber sie haben auch die eigene musikalische Kraft und Energie. Und wenn sie hierherkommen, zu unserem Projekt, dann ist ganz Europa hier, die ganze Kultur Europas! Und dann beginnen diese 70 Orchester-Musiker zu spielen - wie ein Solist. Und ich bin nur der, der sagt: "Zeigen Sie, zeigen Sie, was sie noch möchten!"
Und Sie lassen auch Raum für Improvisation?
Ich denke, so viele spontane, so viele emotionale Musiker in einem Orchester, die sofort von Klassik zur Roma-Musik und Improvisation wechseln können - das ist selten. Das ist ein Geschenk, ein Geschenk für die Musik.
Ihr Orchester ist das erste seiner Art?
Ein Roma- und Sinti-Orchester gibt es das erste Mal in diesem Jahrhundert, im 21. Jahrhundert.
Teil derselben europäischen Geschichte
Welche politische Botschaft verbinden Sie jenseits der Musik mit diesem Orchester?
Viele Völker leben auf diesem Planeten Erde. Und wir alle sind Menschen. Über die Roma, die seit mehr als 600 Jahren hier in Europa leben, kommen selten positive Nachrichten in den Medien. Meistens nur dann, wenn es einen Skandal gibt oder manchmal auch traurige Sachen. Aber über die Verbindung, die Roma seit Jahrhunderten mit allen Völkern über die Musik gehabt haben, kommt selten etwas. Und jetzt versucht dieses Orchester als Botschaft zu sagen: Leute, das ist unsere Roma-Musik, aber diese Roma-Musik hat mit Europa zu tun! Mit französischer Musik - George Bizet hat “Carmen" geschrieben, Ravel oder Debussy waren von Roma-Musik inspiriert. Auch sind wir mit russischer Musik verbunden, Sergej Rachmaninow war in eine Roma-Frau verliebt. Dank dieser Frau war er in Roma-Familien, dort hat er gehört, wie die Roma singen. Melodien, die er nie zuvor gehört hatte. Und dann kam er nach Hause und komponierte seine Erste Symphonie, und diese hat einfach Roma-Musik in sich. Und er hat noch eine Oper “Aleko" komponiert. Das ist die Geschichte über einen Mann, der wegen einer Roma-Frau sagt, er wolle nicht mehr Soldat sein, sondern nur mit dieser Frau zusammen sein. Das ist Leidenschaft, Emotion!
Das ist alles Teil einer Geschichte, die dieses Orchester verbindet. Wir wollen zeigen, dass wir europäische Bürger sind, dass wir Chancengleichheit haben sollten wie jeder Mensch auf dieser Erde, nicht mehr und nicht weniger. Dass wir normal hier leben können. Und wir wollen mit diesem Orchester auch musikalische, vergessene Werke wieder entdecken, wie die von Bihari. Wir möchten unser Repertoire mit solchen Werken weiter ergänzen!
Wie wollen Sie diesen europäischen Gedanken Ihres Orchesters verstetigen?
In vielen Staaten Europas gibt es nationale, regionale und städtische Orchester. Und da könnte die Europäische Union sagen, die Roma und Sinti Philharmoniker stehen für ein europäisches Erbe, für eine gemeinsame europäische Kultur. Weil sich in dieser Musik der Franzose, der Deutsche, Italiener, Ungar, Rumäne, Spanier, Holländer und Österreicher, viele Menschen gleichermaßen geborgen fühlen. Ich brauche die Unterstützung der Europäischen Union, dass dieses Projekt-Orchester ein festes Orchester wird. Ich bin jetzt am Anfang, und mit der europäischen Unterstützung werden Sie noch viel symphonische Musik, viel tänzerische Musik erleben. Wir werden die Welt mit Musik ernähren, das ist die Kraft dieses Orchesters!
Wie stehen Sie zu dem Begriff "Zigeunermusik"?
Die Komponisten haben ihre Musik so betitelt, wie es in der jeweiligen Zeit üblich war. Aber ich würde immer sagen: Das ist Roma-Musik. So heißt sie in meiner Sprache. Das Wort Zigeuner existiert in unserer Sprache nicht. Ich bin in Serbien geboren, im ehemaligen Jugoslawien. Da war das Wort "Zigeuner" sehr schlecht für mich. Als ich mit sieben Jahren in der Musikschule angefangen habe, wurde unser Haus in der "Mahala" (ein Roma-Randviertel) in Kosovska Mitrovica von einer Überschwemmung zerstört. Und dann haben wir vom Staat ein neues Haus bekommen, in einem anderen Stadtviertel, und da bin aufgewachsen. Und dann sagte mein Vater: "So, hier gibt es keine anderen Kinder, du kannst hier gar nichts machen, geh in die Musikschule!" Gut, und dann habe ich meine Violine genommen und bin losgegangen. Einige der Kinder dort haben zu mir gesagt: "Zigeuner, Zigeuner!" Und ich sagte: "Entschuldigung, was soll das? Wer bist du denn? Was heißt das?" Ich hatte dieses Wort nicht verstanden. Ich bin dafür, Roma zu sagen.
"Jeder Mensch ist ein Unikat!"
Setzen Sie sich dafür ein, dass alle Roma-Kinder Romanes lernen?
Ja! Ich denke, viele Roma kennen ihre Sprache, aber viele haben sie auch vergessen. Ich würde sagen: Wir müssen vor allem die Sprache sprechen in dem Land, in dem wir leben. Und wir sollen auch Romanes, unsere nationale Volkssprache lernen. Und natürlich auch immer Englisch.
Wie blicken Sie auf ihre eigene Kindheit und Prägung zurück?
Im Rückblick war vieles schön, trotz aller Probleme, die es gab. Ich bin dankbar, dass ich in Jugoslawien geboren bin, und dankbar, dass mein Vater Arbeit hatte - in einer Zigarettenfabrik. Ich bin in der Tito-Zeit aufgewachsen, mir schien damals, dass alle Bürger oder alle Völker von Jugoslawien friedlich miteinander gelebt haben. Und wir haben einfach gelebt! Dennoch war es für mich wie in einem Paradies. Damals konnte ich nicht ahnen, was später passieren würde.
Wirklich wichtig war meine Ausbildung! Ich habe kürzlich auf einem Roma-Weltkongress in Berlin gehört, dass viele jugendliche Roma überhaupt keine Chance haben, dass Roma-Kinder in der Slowakei, in Tschechien, auch in Kosovo, in anderen Regionen automatisch in Sonderschulen geschickt werden. Das heißt, sie gehen nicht in die Schule mit allen Kindern zusammen. Das, finde ich, ist ein großer Fehler!
Was ist Ihr Rat an junge Menschen aus der Roma-Community? Was sollen sie tun?
Lernen! Einen Beruf erlernen. Sie müssen daran glauben, dass sie es schaffen! Wenn sie sagen, ich möchte Doktor werden, ich möchte ein Wissenschaftler werden, ich werde Poet, Künstler, dann müssen sie diesen Weg gehen! Und dann werden sie es schaffen! Wenn ich es geschafft habe, schaffen es alle anderen auch! Das ist wichtig! Wir alle sind Menschen in diesem Kosmos - und wir haben alle eine Begabung, Intelligenz und Emotion.
Jeder Mensch ist ein Unikat, jeder Mensch! Das ist der Reichtum unserer Erde, alle müssen wir es schaffen, es positiv schaffen. Das ist es, was ich mir wünsche.
Sie selbst sind jetzt schon seit 31 Jahren - Ihr halbes Leben - in Deutschland. Was ist Deutschland für Sie?
Ich habe von Bundespräsident Joachim Gauck 2016 das Bundesverdienstkreuz bekommen für die Gründung der Roma und Sinti Philharmoniker. Das ist eine große Ehre für mich! Ich denke bei Deutschland aber auch an Roger Moreno-Rathgeb und sein “Requiem für Auschwitz". Das ist Erinnerung und eine Mahnung für die Versöhnung aller Völker nach dem Zweiten Weltkrieg, eine Hommage an alle Menschen, die ihr Leben lassen mussten.
Deutschland, das ist meine Heimat! Ich bin auch deutscher Staatsangehöriger. Ich denke, das ist meine dritte Heimat. Die erste Heimat ist das Land, in dem ich geboren bin. Die zweite Heimat ist das Land, wo meine Frau lebt. Aber die dritte Heimat ist Deutschland, das mir das Orchester zusammen mit meinen Freunden, mit Politikern, mit der Gesellschaft ermöglicht.
Und ich denke, wir konnten dieses Orchester nur in Deutschland gründen. Ich habe das analysiert: In keinem anderen Land wäre das möglich gewesen, nur in der Bundesrepublik Deutschland. Ich denke, ich bin in der richtigen Zeit, im richtigen Moment hierher nach Deutschland gekommen. Und bin sehr dankbar und stolz, dass ich in diesem großen, großen musikalischen Land lebe, aus dem die großen Komponisten herkommen. Und ich möchte Frieden, damit nicht nur ich, sondern auch hundert Generationen nach mir auf diesem Kontinent leben. Und dass wir musikalische Werke schaffen. Miteinander! Wie die Musik uns zeigt, können wir alles gemeinsam schaffen!
Der Dirigent Riccardo M. Sahiti ist Gründer und Leiter der Roma und Sinti Philharmoniker. Er wuchs im ehemaligen Jugoslawien auf und kam nach seinem Musik-Studium in Belgrad und Moskau nach Deutschland. 2016 wurde Sahiti mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.