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Zum Tod von Margarete Mitscherlich

Günther Birkenstock13. Juni 2012

Am 12. Juni ist die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich im Alter von 94 Jahren gestorben. Gemeinsam mit ihrem Mann Alexander hat sie das geistige und politische Deutschland geprägt.

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Die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich in ihrer Wohnung in Frankfurt am Main auf einem Sofa. Foto dpa
Bild: picture-alliance/dpa

In einem früheren Interview mit der Deutschen Welle hat Margarete Mitscherlich über ihre Arbeit, ihr Leben und ihre Grundsätze gesprochen:

Deutsche Welle: Sie waren in der Frauenbewegung der 70er Jahre aktiv, Sie haben sich gegen den Abtreibungsparagraphen 218 eingesetzt und Sie haben 1977 in der ersten Ausgabe der Frauenzeitschrift "Emma" einen Artikel geschrieben: "Ich bin Feministin“. Sehen Sie sich auch heute noch als Feministin?

Margarete Mitscherlich: Wissen Sie, ich habe immer behauptet, und ich sehe das auch heute noch so: Ich war von Geburt an Feministin. Ich hatte einen sehr netten, aber sehr beschäftigten Landarzt als Vater und eine Mutter, die keineswegs ohne Traurigkeit war, aber sie war die Seele des Hauses. Sie sagte: Du willst doch studieren. Und sie hat mir solange den Gedanken beigebracht, bis ich tatsächlich studieren wollte.

Ich habe mich mit meiner Mutter von Anfang an identifiziert, für mich war klar, meine Mutter ist mein Vorbild. So will ich werden, die Frauen sind besser als Männer.

Ist das immer noch Ihre Überzeugung?

Dass die Frauen an sich besser sind als Männer, ist Unsinn. Aber die Frauen lernen seit Jahrtausenden andere Arten mit Menschen umzugehen, was Einfühlung betrifft. Sie sind fähiger, sich selber nicht so wichtig zu nehmen, wie Männer sich wichtig nehmen. Aber eine Welt mit nur einem Geschlecht fände ich äußerst langweilig.

Wie stand denn Ihr Mann zu Ihrem feministischen Engagement?

Mein Mann behauptete immer, auch Feminist zu sein. Er war immer für das Frauenrecht und dass Frauen die gleichen Rechte haben. Dass Frauen auch beruflich in der Öffentlichkeit stehen sollten wie Männer, wenn sie die Lust und Fähigkeit haben, sich hier wie dort entfalten zu können. Wir hatten denselben Beruf. Er hat mir immer zu lesen gegeben, was er geschrieben hat. Er hat mich immer ernst genommen. Er hat verschiedentlich behauptet, dass ich intelligenter sei als er, was Unsinn war. Es war nur eine andere Form. Ich war realistisch und er war sozusagen deutscher Idealist. Ich war in vielem nüchtern und das tat ihm gut. Und mir tat auch seine ungeheure Beweglichkeit und Neugierde gut und seine große Bildung. Er hat mir viel gegeben.

Sie haben Deutschland stark kritisiert in Ihrem berühmtesten Buch, das Sie mit Ihrem Mann geschrieben haben, "Die Unfähigkeit zu trauern“. Würden Sie sagen, die Deutschen haben inzwischen gelernt zu trauern?

Was ist trauern? Wir haben ja Trauer viel weiter gefasst. Auch Melancholie, da sind die verschiedensten Gedanken mit hinein gekommen. Natürlich spielte auch eine Rolle, was wir gelernt haben in der Nazizeit und durch die Beobachtung der Art der Mütter, mit dem Tod ihrer Söhne umzugehen. Da stand dann ja überall in den Zeitungen: “Für Führer, Volk und Vaterland ist unser Sohn gestorben. In stolzer Trauer…" und all so ein unglaublicher blödsinniger Quatsch. Die Nazizeit war ja wirklich eine Zeit, die gegen jedes Nachdenken, gegen jede Überlegung war. Es war nicht nur ein plötzlicher Rückfall in eine primitive Art der Ideale, sondern auch ein Rückschritt im Umgang der Menschen miteinander.

Sie haben den Deutschen ganz klar Verdrängung vorgeworfen, gesagt, dass sie einfach nur vergessen wollen und eben nicht trauern. Haben die Deutschen inzwischen gelernt zu trauern?

Wir beide sind uns einig, dass ein Volk am Ende dieses Rückfalls in Barbarei nach dem Motto: "Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt und der Führer war ein Gott" extrem enttäuscht ist. Sie haben ihn angebetet, die Kinder beteten tatsächlich zu ihm als Gott im Kindergarten. Es war wirklich im schlimmsten Sinne reine Religion geworden. Das ist natürlich schlimm für ein Volk, das dasteht und alles verloren hat, materiell alles verloren, die Achtung in der ganzen Welt verloren und alle Tradition, die es vorher hoch geachtet hat. Die waren nichts mehr wert. Also gab es nichts an ideellem wie materiellen Gut, das sie nicht verloren hatten. Es ist verständlich, dass ein solches Volk, um nicht in Depression und Melancholie und Massenselbstmord zu verfallen, dass das in Deutschland recht vital reagiert hat, nämlich indem es aufbaute, aufbaute, wo es nur konnte.

Jetzt beschreiben Sie es fast als normalen Mechanismus.

Die konnten gar nicht anders. Wenn ich das heute betrachte, war das ein fast normaler Mechanismus. Die hätten sonst gar nicht anders existieren können.

Wir haben ja dieses Buch geschrieben in den 50er Jahren. Und da haben sie gewiss nicht getrauert, sondern da haben sie ihren Wohlstand genossen. Da waren sie auf der richtigen Seite des Kalten Krieges, waren ganz und gar mit den Amerikanern identifiziert.

Sie fingen dann Anfang der 60er Jahre an, als hier der Auschwitz-Prozess war und so etliche andere Prozesse. Im Radio wurde immer wieder davon gesprochen, aber relativ selten in den Schulen. In den Schulen nix, in den Familien nix, Schweigen. Das fing erst langsam in den 60er Jahren an. Wir haben das Buch 1967 veröffentlicht.

Von Nachdenken war im täglichen Leben, was Schule und Familie und so etwas betraf, keine Rede. Das fing dann in den 60er Jahren langsam an. Und das ist seitdem sehr viel stärker geworden und sehr viel breiter und tiefgehender geworden.

Sie haben von Ihrer Irritation, Erschütterung gesprochen, dass dieses Kulturvolk der Deutschen in diese Barbarei abrutschen konnte. War das für Sie der Auslöser, verstehen zu wollen und letztlich Psychologie zu studieren?

Ach, so wie ich Feministin von Geburt an war, identifiziert mit meiner Mutter, die eben ihren Verlobten verloren hatte und mir gelegentlich davon erzählte, wenn sie ans Klavier ging und spielte, dann setzte ich mich drunter und ich war todtraurig. Und ich wollte immer wissen, was bedeutet das. Was geht in ihr vor. Das war mein Interesse. So lange ich bewusst denken kann, war in mir der Wunsch zu wissen, was im anderen vor sich geht. Wie kann ich den anderen verstehen, wie kann ich mich verstehen, weil das das Gleiche ist.