Hospiz, Haus voller Leben
17. November 2012Bevor Ingrid B. ins Koblenzer Hospiz umzog, wohnte die 60-Jährige in einem Altenzentrum. Es ging ihr sehr schlecht: "Durchfälle ohne Ende, Schmerzen, denen in keiner Weise Rechnung getragen wurde. Ich wusste vor Übelkeit, Schmerz und Angst vor der nächsten Nacht überhaupt nicht mehr, wie ich das noch aushalten sollte." Die Ärzte im Krankenhaus hatten ihre Krebserkrankung mit Chemotherapie behandelt: einen fünf mal sieben Zentimeter großen Darmtumor, der schon in viele Organe gestreut hatte.
Kontakt zum ambulanten Hospizdienst hatte Ingrid B. direkt nach ihrer Krebs-Diagnose im Frühjahr aufgenommen. Jetzt rief sie verzweifelt bei den Mitarbeiterinnen an: "Ich kann nicht mehr, ich bin so weit, dass ich hier aus dem 6. Stock springe, weil ich einfach nicht mehr ein und aus weiß." Zwei Tage später konnte sie das Zimmer 8 im Stationären Hospiz in Koblenz beziehen: "Ich bin unendlich erleichtert, dass ich jetzt hier bin."
Wieder Lust auf Essen und den Rest des Lebens
Eine Woche darauf sitzt die zierliche Frau, die das Essen schon eingestellt hatte und nur noch 35 Kilogramm wog, beim Mittagessen mit Blick auf die eigene kleine Terrasse. Ingrid B. hat nach intensiver Behandlung durch einen Palliativmediziner am ersten Abend im Hospiz keine Schmerzen mehr. Sie schwärmt von der herzlichen Fürsorge, die sie hier erfahre, ohne dass ihr etwas aufgezwungen werde. Sie fühle sich geborgen wie ein Kind bei seinen Eltern, sagt die Diplompädagogin. Augenzwinkernd fügt sie hinzu, "ich bin jetzt nicht bekifft oder so". Die liebevolle Zuwendung löse bei ihr eine Gelassenheit aus, die sie in ihrer Situation nie für möglich gehalten hätte. "Ich werde nicht mehr gesund werden, aber es ist nicht egal, wie man die letzte Zeit seines Lebens verbringt."
Genau so soll es sein, in Koblenz und in anderen Hospizen: Jeder soll bis zum Schluss so leben können, wie es ihm gut tut und wie er das möchte, möglichst schmerz- und beschwerdefrei. Es gibt keinen vorgegebenen Tagesablauf, sagt Leiterin Anne Egbert: "Hier wird keiner um sechs Uhr geweckt, damit er um sieben Uhr gewaschen im Bett liegt." Mit einer Quote von 1,2 Stellen pro Bewohner gibt es mehr Personal und damit mehr Zeit als in Krankenhäusern oder Pflegeheimen.
Weil jeder wisse, in welche Richtung es gehe, sei auch der Umgang miteinander leichter, erklärt Egbert. Die Menschen in einer so intimen Lebensphase zu begleiten und Anteil an vielen Lebensgeschichten nehmen zu dürfen, empfindet sie als bereichernd. Ein neutraler Psychologe steht regelmäßig zur Verfügung, auch damit Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die eigene Trauer und belastende Erfahrungen aufarbeiten können. Für jeden Toten wird mit den Angehörigen eine Abschiedsfeier im eigenen Zimmer gestaltet. Heute gedenkt das Team im Raum der Stille aller 20 Menschen, die im vergangenen Monat verstorben sind. Die Grundstimmung im Haus sei sehr positiv, sagt Anne Egbert, für sie ist das Hospiz "ein Haus des Lebens, kein Sterbehaus".
Jedem das geben, was er gerade braucht
Im Mittelpunkt stehen immer die Bedürfnisse der Gäste, so werden hier die Bewohnerinnen und Bewohner genannt. Im Haus werden Geburtstage gefeiert, im Sommer wird im Garten gegrillt. Heute betritt ein Mann, der erst am Vortag eingezogen ist, den gemütlichen Wintergarten, er möchte bei dem schönen Herbstwetter mit dem Rollstuhl in die Stadt. Für einen anderen kocht die Hauswirtschafterin gerade sein Lieblingsessen. Ingrid B. hat eine Massage mit Rosenblütenöl sehr genossen. Andere Gäste werden mit Wundverbänden oder Medikamentengaben über 24 Stunden versorgt.
"Wenn ich in ein Zimmer komme, dann muss ich spüren, was jetzt gebraucht wird", so beschreibt Michaela Hinz ihre Arbeit. Wie alle hauptamtlichen Hospizkräfte ist sie examinierte Krankenschwester und hat eine Zusatzausbildung in "Palliative Care" gemacht. Sie ist also kundig in der lindernden Pflege und ganzheitlichen Begleitung, die auf Schmerzfreiheit und Lebensqualität bis zum Schluss zielt. "Man braucht bei der Geburt Hilfe - das macht die Hebamme - und beim Sterben, das mache ich", so erklärt die Mutter ihren drei Kindern ihren Beruf. Ihre Arbeit gebe ihr selbst sehr viel zurück, sagt sie, durch die oft sehr positive Ausstrahlung der Menschen, die sie begleitet. Zudem empfinde sie viel stärker, worauf es wirklich ankomme im Leben.
In guten Händen lächelnd gestorben
An diesem Mittag war Michaela Hinz bei Rosemarie V., wo sie sofort gemerkt habe, "dass jetzt und hier Pflege unwichtig ist". Sie massierte der Sterbenden Gesicht, Hände, Beine und Füße und spürte, wie die sich entspannte. Als der Ehemann dazu kam, gelang es ihr, auch ihn so zu beruhigen, dass er noch einmal guten Kontakt zu seiner Frau aufnehmen konnte.
Bei der Übergabe an den Spätdienst berichtet Michaela Hinz später, wie Frau V. mit liebevoller Begleitung gut sterben konnte: "Es war ein gutes Gefühl, sie lag nachher sehr zufrieden im Bett und hat ein bisschen gelächelt." Diese Momente, in denen nichts anderes mehr eine Rolle spiele als die Menschen im Raum, kenne man in der Außenwelt gar nicht, sagt Michaela Hinz, am Ende sei da "ganz viel Ruhe". Der Ehemann von Frau V. sei sehr dankbar für diesen guten Abschied von seiner Frau gewesen.
Auch für ihre Angehörigen, berichtet Ingrid B., sei das Hospiz eine große Erleichterung. Ihr Bruder, der Krankenhäuser nicht ertragen könne, fühle sich hier sehr wohl, die Geschwister besprächen zum ersten Mal Dinge, die seit Jahren zwischen ihnen gestanden hätten. "Wenn ich mir vorstelle, dass mein Bruder in die normale Pflege und Betreuung eingebunden wäre, dann hätte er neben seinen vielen anderen Verpflichtungen ganz bestimmt keine Zeit mehr, sich zu mir zu setzen und zu reden." Angehörige können jederzeit zu Besuch kommen oder auch im hauseigenen Gästezimmer übernachten.
Ehrenamtliche sind die Brücke zwischen Hospiz und Bevölkerung
Man weiß, dass Menschen besser loslassen und sterben können, wenn gut für ihre psychischen, sozialen und spirituellen Bedürfnisse gesorgt wird - unabhängig von Religion oder Weltanschauung. Dazu tragen im Hospiz auch viele ehrenamtliche Helferinnen und Helfer bei, unter ihnen Ärzte, Psychologen, Seelsorger oder einfach Freiwillige, die mithelfen wollen, damit Menschen in Würde sterben können. Die Hospizbewegung ist aus ihrem Engagement entstanden und lebt bis heute davon. Allein im Hospizverein Koblenz gibt es 100 Ehrenamtliche, deutschlandweit sind es bis zu 80.000.
Zu den ehrenamtlichen Begleiterinnen gehört auch Irmgard Blätter. Sie hat selbst erlebt, wie hilflos und allein sich Menschen fühlen können, wenn ihre Angehörigen sterbenskrank sind. Als ihr Sohn Frank mit 27 Jahren unheilbar an Lungenkrebs erkrankte, gingen ihr viele Menschen aus dem Weg, wechselten sogar die Straßenseite. Heute weiß sie, dass es Unsicherheit war. Damals war sie sehr verletzt. Nach dem Tod ihres Sohnes beschloss sie, anderen zu helfen, die Angst vor Tod und Sterben zu überwinden. Sie machte eine einjährige Ausbildung zur ehrenamtlichen Hospizhelferin.
Dort hat sie gelernt, offen mit den Betroffenen zu reden. Die Versuche ihres Sohnes, mit ihr über sein Sterben zu reden, hatte sie noch hilflos abgeblockt. Seit vielen Jahren kommt die 72-Jährige nun schon jede Woche ins Hospiz. Sie schaut immer erst im Gäste- und Erinnerungsbuch nach, wer das Haus seit ihrem letzten Besuch verlassen hat. Dann geht sie zu den Menschen, die das am nötigsten brauchen. An diesem Morgen saß sie fast zwei Stunden bei Rosemarie V. am Bett, weil man damit rechnete, dass ihr Weg bald zu Ende geht. Wenn dann jemand stirbt, erzählt Irmgard Blätter, sei im Raum "so etwas Heiliges, das kann man gar nicht beschreiben".
Vom Tod nicht überrumpeln lassen
Ingrid B. sagt, sie hätte noch Ideen und Pläne für viele Jahre gehabt, jetzt aber müsse sie ihre Zeit anders nutzen. Sie denkt viel nach: über Reisen und Begegnungen mit Menschen, die ihr Leben reich und schön gemacht haben. Sie erinnert sich, wie sie sich für ihre Überzeugungen eingesetzt hat: in der Marburger Studienzeit in der Friedensbewegung. Oder wie sie in Koblenz das Frauenhaus mit gründete. Auch ihr Glaube gibt ihr heute Halt, sie sei Gott näher gekommen, erzählt sie: "Inzwischen spreche ich mit dem Chef persönlich." Sie ist überzeugt, dass "dieses Leben nicht das Ende ist".
Das Hospiz sieht sie nicht in erster Linie als Ort des Sterbens. "Erstmal ist es ein Ort, wo auch gelebt wird und auch gelacht wird." Wenn ihr Leben zu Ende geht, wünscht sie sich, "mit Würde sterben zu können, nicht zwischen Maschinen, nicht zwischen stöhnenden Zimmergenossen oder in einer Intensivstation, wo es immer laut und hektisch zu geht" Genau darum ist sie ins Hospiz gegangen. Ingrid B. wünscht jedem Menschen, "dass er sich frühzeitig darüber Gedanken macht, wie er sterben will und nicht irgendwann überrumpelt wird". Am Tag ihres Todes möchte sie, "dass jemand, der mich kennt und der mich gern hat, an der Hand hält und diesen Weg ein Stück begleitet".