Eltern gegen Schulpflicht
10. Januar 2019"Der 29. August 2013, als morgens um zehn nach acht 40 Behördenvertreter vor der Tür standen, das war für uns der schrecklichste Tag", sagt Dirk Wunderlich. Polizei und Jugendamt holten die vier Kinder aus der Familie und brachten sie in ein Heim. Aus den Akten erfuhren die Eltern, berichtet der Vater der DW, dass die Behörde Gefahr im Verzug angab, weil er Nachbarn ein Jahr zuvor gesagt haben sollte, dass er seine Kinder lieber töten, als zur Schule schicken wollte. "So ein Käse", sagt Wunderlich: "Das muss man sich mal vorstellen!" Er nennt die Vorwürfe "konstruiert", um im Eilverfahren die Kinder aus der Familie zu nehmen und so die Schulpflicht durchzusetzen.
Drei Wochen später kamen die Kinder zurück zu den Eltern. Ihr Leistungsstand war vergleichbar mit Gleichaltrigen. Die Familie hatte sie mithilfe einer christlichen Fernschule unterrichtet. Die Eltern hatten noch kein volles Sorgerecht, man habe ihnen verboten, nach Frankreich auszureisen, sagt Wunderlich. Dort ist Homeschooling ebenso zugelassen wie in angelsächsischen und anderen Ländern: Eltern können ihre Kinder - unter bestimmten Auflagen und Kontrollen - zu Hause unterrichten.
Unter Druck stimmten die Wunderlichs schließlich dem Schulbesuch in Hessen zu. Dass aber die Behörden damals so massiv in ihre Elternrechte eingriffen, dagegen haben sie geklagt vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Der hatte 2006 schon einmal festgestellt, dass die deutsche Schulpflicht mit dem Europäischen Recht vereinbar sei. Der UN-Sonderberichterstatter Vernor Munoz mahnte im selben Jahr: "Die Förderung und Entwicklung eines Systems von öffentlicher, staatlich finanzierter Bildung sollte nicht die Unterdrückung von Bildungsformen zur Folge haben, die keine Anwesenheit in einer Schule erfordern."
Bei Verletzung der Schulpflicht: Bußgelder und Haftstrafen
In ganz Deutschland müssen seit 1919 alle Kinder und Jugendlichen eine Schule besuchen. In den meisten Bundesländern ist die Schulpflicht in der Landesverfassung festgeschrieben. "Eine generelle Befreiung von der Schulpflicht aus pädagogischen oder religiösen Gründen ist nicht zulässig", teilte die Kultusministerkonferenz (KMK) der DW mit. Die Schulpflicht schränke die Grundrechte der Eltern und Schüler "nicht in unzulässiger Weise" ein. Ausnahmen gibt es nur bei schweren Erkrankungen, Kindern von Diplomaten oder Schaustellern.
Die Verletzung der Schulpflicht gilt in den meisten Bundesländern als Ordnungswidrigkeit, die mit einem Bußgeld geahndet wird. In Hessen können Haftstrafen bis zu sechs Monaten verhängt werden. Deutsche Behörden und Gerichte betonen, dass die Schulpflicht dazu diene, allen die demokratischen Werte des Grundgesetzes zu vermitteln. Sie sorge dafür, dass sich niemand in Parallelgesellschaften absondere oder dem Dialog mit Andersdenkenden verschließe. Dirk Wunderlich weist den Verdacht der Abschottung zurück: Kinder von Heimschuleltern seien oft in Vereinen aktiv, seine Kinder seien im ganzen Ort und darüber hinaus mit unterschiedlichsten Menschen vernetzt, dafür habe er dem Familiengericht viele Zeugen präsentiert.
Was haben Eltern gegen den Schulbesuch?
Dirk und Petra Wunderlich sind Gärtner, haben Abitur, sind beide zur Schule gegangen - "gar nicht mal ungern", sagt Dirk Wunderlich. Heute aber könnten die Lehrer den Stoff gar nicht mehr in der Schule vermitteln, die Kinder müssten das meiste außerhalb der Schule leisten, sagen die Wunderlichs, außerdem wollten sie eng als Familie zusammenleben: "Man lernt am besten im Familienverband - alles, was man zum Leben braucht." Sie hätten immer angeboten, sich von Jugend- und Schulamt jederzeit kontrollieren zu lassen.
Ihre Kinder gingen nur ein dreiviertel Jahr zur Schule. "Sie hatten Kopfschmerzen von diesem Krach und haben so viele Hausaufgaben aufgehabt, dass nichts mehr vom Tag übrig blieb", erinnert sich Dirk Wunderlich, "ein verlorenes Jahr für uns alle". Danach blieben die Kinder zuhause, heute ist nur noch die jüngste Tochter schulpflichtig.
Die Entscheidung aus Straßburg, sagt Dirk Wunderlich, habe für seine Familie keine praktischen Auswirkungen, ihr drohe von den Behörden "keine Gefahr" mehr. Ein weiteres Signal aus Straßburg an deutsche Schulbehörden, dass sie alles richtig machten, fände er traurig: "Bedauerlich ist es für die anderen Eltern in Deutschland, die ihre Kinder selbst unterrichten."
Homeschooling, Unschooling, Freilerner
Wie viele Eltern sind betroffen? "Schätzungen gehen von bundesweit zwischen 500 und 1000 Fällen von Homeschooling aus", schreibt die KMK: "Es gibt aber keine verlässlichen Zahlen." Nicht alle Eltern, die ihre Kinder zuhause lernen lassen, nennen das Homeschooling. Einigen geht es um "Unschooling", keine Beschulung. So sehe das die wachsende Bewegung der "Freilerner", sagt Thomas Stein (alle Namen geändert), Vater von drei Söhnen. Zusammen mit anderen Eltern wollten die Steins eine Reformschule gründen, die ganz an den Bedürfnissen der Kinder ausgerichtet ist, doch das scheiterte.
Weil er die Kinder ganz im eigenen Rhythmus lernen lassen will, begleitet der Freiberufler jetzt Jakob (11), Anton (9) und Max (5) zuhause. Er arbeitet am frühen Morgen. Sie müssen nicht um sechs aus dem Bett, die Jungen lesen, sehen Dokumentationen, spielen, recherchieren über Polarexpeditionen oder das Weltall und reden sehr viel miteinander, berichtet der Vater. Er räumt ein: "Das ist wahnsinnig anstrengend. Man streitet sich auch oft." Wie genau sie die Schulpflicht umgehen, will er nicht sagen. Grundsätzlich sind Kinder in Deutschland nicht mehr schulpflichtig, wenn sie mehr als 50 Prozent des Jahres im Ausland leben.
"Schulpflicht schützt nicht vor Extremismus"
Die Steins hätten sich viele Gedanken gemacht, ob sie ihre Kinder mit der Entscheidung zu Außenseitern machten, erinnert sich Thomas Stein. Über Fußball- und andere Vereine und Kurse hätten beide vielfältige Kontakte und seien auch oft bei Freunden. Die Schule ist in seinen Augen nicht der "melting pot", in dem sich alle Gruppen und Schichten mischten. Wenn diese Mischung das Kriterium sei: "Dann müsste ich jede Menge katholischer Internate sofort verbieten, weil es da einfach nicht passiert."
Zur Frage der Auseinandersetzung mit Andersdenkenden und demokratischer Kultur entgegnet er, trotz der Schulpflicht gebe es weiter Misshandlungen, Nazi-Familien und sonstige Extremisten: "Wenn man in Studien Deutschland vergleicht mit England, USA oder Frankreich bei der Verbreitung von Vorurteilen und ähnlichem, sind die in all diesen Gesellschaften mehr oder weniger gleich verteilt." Das Freilernen sei sicher nicht für jedes Kind und jede Familie ein gutes Modell und umgekehrt würden auch Menschen durch die Schule traumatisiert. Eine befreundete Hauptschullehrerin habe berichtet: "Ich mache Elendsverwaltung, die lernen nichts bei mir. Ich bin froh, wenn die ruhig sind."
"Das Recht, ohne Schule ein normales Kind zu sein"
Ihren Kindern wollen die Steins die Grundlagen mitgeben, das Handwerkszeug, mit dem sie sich die Welt erschließen können, sagt Stein. Durch das Internet sei Wissen keine Mangelware mehr. Wenn die Kinder später Schulabschlüsse machen wollten, könnten sie das in allen Bundesländern tun. Erfahrungen anderer Freilerner zeigten, dass Kinder das schaffen, wenn sie es wirklich wollten. "Aber vielleicht bin ich, wenn die 16 sind, auch nicht mehr so entspannt", überlegt er.
Und wenn seine Söhne doch mal in die Schule wollen? "Dann gehen sie da hin, unbedingt!" Er wünsche sich ein offenes System, wo Schüler wählen, wo sie hingehen, und Lehrer mit mehr Freiheit und weniger Zwang ihre Schüler besser begeistern könnten. Thomas Stein will Schulen nicht abschaffen, auch die Freunde der Kinder seien "super Kinder": "Es geht einfach um das Recht, auch ohne Schule ein ganz normales Kind sein zu dürfen in Deutschland." Das könne nicht in Europa entschieden werden, "das muss man in Deutschland lösen".