1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Holocaust-Überlebende Margot Friedländer auf dem Vogue-Cover

18. Juni 2024

Mit 102 Jahren gehört sie zu den ältesten Menschen auf der Titelseite des Modemagazins. Doch schon immer war die Vogue für eine Überraschung auf dem Cover gut - mit Porträts außergewöhnlicher Persönlichkeiten.

https://p.dw.com/p/4hBTE
Deutschland l Margot Friedländer auf Vogue Cover Germany
Bild: VOGUE Germany/dpa/picture-alliance

Eine Frau, die das Grauen des Holocaust überlebt hat, als "Covergirl" auf dem Titel eines Modemagazins? Wirkt das nicht etwas despektierlich angesichts der Lebens- und Leidensgeschichte von Margot Friedländer?

Tut es nicht. Denn diese Frau hat etwas zu sagen, sie ist eine der wichtigsten noch lebenden Zeitzeuginnen des Holocaust. Sie hat es sich zum Lebenswerk gemacht, Menschen über das, was sie erlebt und überlebt hat, zu berichten - stets freundlich, voller Güte und Nächstenliebe, ohne erhobenen Zeigefinger. Sie tut es gegen das Vergessen, für mehr Menschlichkeit.

Beim Blick in die Geschichte der Vogue-Cover in den verschiedenen Ländern, wo die Zeitschrift erscheint, finden sich oft Beispiele, die zeigen, dass die Vogue mehr als ein Glitzer- und Glamourmagazin sein möchte - sie setzt Themen und stellt ungewöhnliche, interessante und wichtige Menschen in den Mittelpunkt. Sei es ein Harry Styles, der als erster Mann auf der britischen Vogue abgelichtet wurde - in Frauenkleidern - um das gender-queere Lebensgefühl zu transportieren, sei es die pakistanische Aktivistin und Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai , die damals 106-jährige philippinische Kalinga-Tätowiererin Apo Whang-od - oder das Ehepaar Wolodomyr und Oksana Selenskyj.

"Seid Menschen!"

Nun also Margot Friedländer, die die Gräuel des Nationalsozialismus überlebt hat und bis heute nicht müde wird, den Menschen ihre Botschaft zu überbringen: "Schaut nicht auf das, was euch trennt. Schaut auf das, was euch verbindet. Seid Menschen, seid vernünftig", sagt sie in der Juli/August-Ausgabe der deutschen Vogue.

Sie spricht vor Schulklassen oder dem deutschen Bundestag. Bei Holocaust-Gedenkveranstaltungen ist sie regelmäßiger Gast. Sie hat hohe Auszeichnungen bekommen, wie das Bundesverdienstkreuz oder die Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin. Am liebsten aber sei sie in Schulen, sagte Friedländer 2010 in dem von der DW koproduzierten Dokumentarfilm "A Long Way Home" ("Ein langer Weg nach Hause"), denn dort höre man ihr "unglaublich" zu. "Ich habe - ich weiß es nicht - vielleicht tausend Briefe bekommen. Ich sage immer: 'Es ist für euch. Was war, können wir nicht mehr ändern.' Das ist meine Mission geworden."

Sie weiß noch genau, wie alles anfing

Margot Friedländer steht mit einem Blumenstrauß in der Hand vor zwei Fotografien, auf denen sie zu sehen ist.
Margot Friedländer wurde auch für den Bildband "Ich lieb Berlin" zu ihrem 100. Geburtstag porträtiertBild: Fabian Sommer/dpa/picture alliance

Im Zuge dieser Mission setzt die Vogue gemeinsam mit Margot Friedländer ein deutliches Zeichen. Der Rechtsruck, der wachsende Antisemitismus in Deutschland - das alles beobachtet Friedländer mit Sorge. Natürlich bekäme sie mit, was in unserer Gesellschaft passiert, erzählt sie in der Vogue. Dass sich immer mehr junge Menschen von den rechten Parolen der AfD angezogen fühlten, dass sich antisemitische Übergriffe häuften und dass Politikerinnen und Politiker auf offener Straße verprügelt würden. Sie war zwölf Jahre alt, als Hitler an die Macht kam. Sie wisse noch genau, wie es damals anfing. Deswegen wolle sie sprechen. Auch im Namen der Opfer, die nicht mehr sprechen können.

Margot Friedländer kam am 5. November 1921 als deutsche Jüdin in Berlin zur Welt. Ihre Familie wurde von den Nazis ermordet, sie selbst wurde in Berlin von Deutschen eine Zeitlang versteckt, geriet aber 1944 in die Fänge der Gestapo und wurde ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Dort heiratete sie kurz nach der Befreiung ihren Mann Adolf Friedländer. Mit ihm wanderte sie in die USA aus. Er starb 1997. Jahre später fasste sie den Entschluss, nach Berlin zurück zu kehren, trotz der Zweifel, ob es eine gute Entscheidung war, das Land der Täter wieder zu betreten. Mit ihren 2008 verfassten Memoiren "Versuche, dein Leben zu machen" reiste sie durch das Land um ihre Botschaft zu verbreiten.

Margot Friedländer hält ein Buch hoch und spricht in ein Mikrofon.
"Versuche, dein Leben zu machen" sind ein Zitat von Friedländers MutterBild: Britta Pedersen/dpa/picture alliance

Margot Friedländer, eine modebewusste Frau

Die Vogue wäre aber nicht die Vogue, wenn sie nicht auch einen modischen Aspekt in Margot Friedländers Leben ansprechen würde. Als junge Frau träumte sie davon, Schneiderin und Modedesignerin zu werden. 1936 noch schrieb sie sich in einer Berliner Kunstgewerbeschule ein und lernte Mode- und Reklamezeichnen. Sie habe oft in Berliner Cafés am mondänen Kurfürstendamm gesessen und die schick gekleideten Damen beobachtet, erzählt sie in der Vogue. Sie wollte selbst Kleider entwerfen und hatte große Pläne, machte noch eine Ausbildung zur Schneiderin - doch der Holocaust veränderte alles.

Bis heute jedoch war und ist Margot Friedländer auch eine modebewusste Frau, deren begehbarer Kleiderschrank in ihrem Appartement in einer Berliner Seniorenresidenz einen großen und wichtigen Platz einnimmt, wie die Vogue mit großem Interesse konstatiert. Neben "Vintage"-Kleidung, die Friedländer immer noch trägt, finden sich auch Kleidungsstücke und Accessoires bekannter Designer.

Die Fotosession für die Vogue fand im Botanischen Garten der Freien Universität Berlin statt. Margot Friedländer ließ sich in fröhlich bunten Kleidern mit floralen Mustern ablichten, stets freundlich und zugewandt lächelnd. Ihr Lieblingsstück jedoch ist das letzte Erinnerungsstück an ihre Mutter. Es ist eine große Bernsteinkette, die sie zu vielen wichtigen Anlässen trägt. Die Kette ist ein Blickfang und ein Statement - mehr als ein modisches.

Wuensch Silke Kommentarbild App
Silke Wünsch Redakteurin, Autorin und Reporterin bei Culture Online