Hilfe für Ukraine: Erst Solidarität - und nun?
8. August 2022Für Lesyia ist es Tag 154 in Köln, und die 38-Jährige Ukrainerin hat schon das Wichtigste gelernt über ihre neue Heimat: Dass die deutsche Sprache der Schlüssel ist, um hier anzukommen; ihr Übungsheft hat sie immer im Rucksack dabei. Lesyia hat auch gelernt, dass ihre Kinder sich in Deutschland viel leichter tun; die zehnjährige Tochter hat gerade eine Empfehlung fürs Gymnasium bekommen. Vor allem aber hat sie gelernt, dass die deutsche Bürokratie ihre Vor-, aber auch ihre Nachteile hat:
"Ich werde oft gefragt: Was gefällt dir hier am besten? Und ich sage dann: 'Die ganzen Regeln, die Deutschland hat, das ist wunderbar.' Und was stört Dich am meisten? 'Na, die ganzen Regeln'", sagt die IT-Fachfrau mit einem Lachen.
Lesyia gehörte am 3. März zu den ersten 43 Ukrainerinnen, die in der Domstadt ankamen - mit einem Bus, gechartert von der Hilfsorganisation Blau-Gelbes-Kreuz. Fünf Monate später wohnt sie mit ihren beiden Kindern in einer kleinen Wohnung in Köln. Ihr Nachwuchs wird gerade in einem Ferienprogramm betreut, inklusive Musik- und Englischunterricht. Was Lesyia jeden Tag aufs Neue bewegt: die Hilfsbereitschaft von wildfremden Menschen, freiwilligen Unterstützerinnen und Nachbarn.
"Neulich war meine Nachbarin bei mir und wir kamen auf die Idee, alle zusammen schwimmen zu gehen. Doch dann fiel mir auf, dass ich gar keinen Bikini hatte. Später klingelte es der Tür, und da lag ein Päckchen auf dem Boden. Mein Sohn hat es aufgemacht und gesagt: 'Mama, schau' mal, hier sind zwei Badeanzüge für Dich!'"
Rekordspenden im März
Lesyia, die vor Kriegsbeginn in ihrer Heimat die Gründung eines Start-Ups vorbereitete, hat nicht das Gefühl, dass die Solidarität für die ukrainischen Geflüchteten nachgelassen hat, im Gegenteil. Doch der Blick auf das Spendenaufkommen für die Hilfsorganisationen zeigt: Die riesige Welle der Hilfsbereitschaft nach dem Kriegsbeginn ist abgeebbt.
Über 180 Millionen Euro hatten die Deutschen im März unter dem Stichwort "Nothilfe Ukraine" an die "Aktion Deutschland hilft" überwiesen, ein Bündnis von mehr als 20 deutschen Hilfsorganisationen. Zwar greifen auch heute noch die Bürgerinnen und Bürger in ihr Portemonnaie, um zu helfen. Doch seit Mai kommen pro Monat nur noch einstellige Millionenbeiträge zusammen.
Weniger Helfer, weniger Demonstranten
Linda Mai kann am besten einschätzen, wie es um die deutsche Solidarität heute steht. Die gebürtige Ukrainerin ist die Vorstandsvorsitzende der Organisation Blau-Gelbes Kreuz in Köln. Mai hat mit ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern nach Kriegsbeginn im Eiltempo ein Hilfslager für die mittlerweile 3500 geflüchteten Ukrainer in Köln aufgebaut. Auf Dutzenden Kundgebungen hat sie unermüdlich für Spendengelder getrommelt, hat 170 Hilfs- und Evakuierungstransporte auf die Beine gestellt - insgesamt 1500 Tonnen Hilfsmaterial.
Mai sagt: "Wir zehren noch von der riesigen Spendenbereitschaft im März und April, mit Sach- und Geldspenden. Aber klar, die Helfer sind weniger geworden. Auch auf unserer letzten Demonstration waren weniger Leute dabei. Es ist wahrscheinlich normal, dass die Menschen zu ihrem Alltag zurückkehren. Aber der Krieg macht keine Pause."
Das Blau-Gelbe Kreuz hat seine Hilfe mit der Zeit professionalisiert; die Unterstützung für die Ukraine ist inzwischen zielgerichteter. Im zehn Kilogramm leichten Rescue Pack finden sich Verbände für die Erstversorgung, blutstillende Medikamente und Tourniquets zum Abbinden bei stark blutenden Wunden. Das reicht für die Erstversorgung von bis zu fünf Personen, etwa wenn ein Arzt im Feld fünf Verletzte versorgen muss.
Gestiegene Gaspreise bestimmen die Schlagzeilen
Wenn junge ukrainische Mütter die Babybox aus Köln öffnen, finden sie darin Windeln, Babymilch und Strampelanzüge. Und mit der "Ready for School-Aktion" unterstützt die Hilfsorganisation diejenigen Familien, die mit ihren schulpflichtigen Kindern nach Deutschland geflüchtet sind. Auf zwölf Paletten stapeln sich im Lager in Köln Federmäppchen, Schreibhefte und Ranzen.
Linda Mai sagt, jetzt, über fünf Monate nach Kriegsbeginn, finde sie wieder mehr Zeit zum Schlafen: sechs statt nur drei Stunden wie noch im Februar, März oder April. Und doch hat sie häufiger wieder schlaflose Nächte: Weil in Deutschland inzwischen vor allem über gestiegene Gaspreise diskutiert wird, weil das Leid in der Ukraine zunehmend aus den Schlagzeilen verschwindet. "Wieviel kostet uns ein Menschenleben? Sollte es uns nicht mehr wert sein, als Geld für Sprit und Gas an Russland zu zahlen?", fragt Mai. "Jeder kann ´was tun und fünf Euro spenden, das tut nicht weh. Das Leid in der Ukraine ist riesig."
Knapp eine Million Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland
Will man die Solidarität Deutschlands mit der Ukraine in Zahlen messen, fällt die Bilanz, Stand heute, imposant aus: Mehr als 915.000 Menschen aus der Ukraine sind mittlerweile hierzulande als Geflüchtete registriert. Bis Ende Juni hatten sich 353.424 Ukrainer bei Arbeitsagenturen, Jobcentern und anderen kommunalen Stellen gemeldet, meldet die Bundesagentur für Arbeit. Und über 146.000 ukrainische Kinder und Jugendliche besuchen deutsche Schulen. Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger spricht zu Recht von einem "enormen Kraftakt".
Auch private und nicht-staatliche Plattformen wie "Unterkunft Ukraine" vermelden beeindruckende Zahlen: knapp 44.000 Betten konnte die Graswurzel-Organisation für die ukrainischen Geflüchteten bisher vermitteln. Doch Deutschland wäre nicht Deutschland, wenn die Bürokratie die Integration der Neuankömmlinge nicht manchmal unnötig erschweren würde. Eine Sprecherin der Organisation über eine Rückmeldung, welche die Organisation in letzter Zeit immer häufiger bekommt:
"Bestimmte Kreise wie Mettmann oder der Landkreis Potsdam haben jetzt einen Aufnahmestopp ausgesprochen. Das bedeutet: Selbst wenn eine private Unterkunft vermittelt werden konnte, können die Geflüchteten diese nicht nehmen und müssen in ihre überfüllten Massenunterkünfte zurück, um weiter Anspruch auf staatliche Unterstützung zu haben."
Probleme Aufnahmestopp, Wohnsitzauflage und Digitalisierung
Dieser Aufnahmestopp gilt nicht nur in einzelnen Landkreisen oder Städten. er gilt sogar in ganzen Bundesländern wie Bayern oder Sachsen. Dort waren in den ersten Monaten nach Kriegsbeginn sehr viele Flüchtlinge aufgenommen worden. Die Geflüchteten werden dann innerhalb Deutschlands weitergeschickt, weil das Kontingent an Personen, die Sozialhilfe beziehen können, in diesen Regionen ausgeschöpft ist. Außerdem sollen Schulen, Krankenhäuser und Behörden nicht überlastet werden.
Und dann ist da noch die Wohnsitzauflage, die Hilfsorganisationen wie Unterkunft Ukraine Kopfschmerzen bereitet. "Wenn sich Geflüchtete beispielsweise schon in Großstädten registriert haben, können sie nicht einfach in ländliche Regionen eines anderen Bundeslandes gehen, weil sie dann keine Sozialhilfe bekommen können. Obwohl die Wohnraumsituation dort entspannter wäre." Eine Herausforderung für Wohnungsvermittler, die eine Unterkunft innerhalb des Kreises der Anmeldung ausfindig machen müssen.
Deutschland sollte beim Umgang mit den Geflüchteten insgesamt flexibler werden, lautet die Kritik von Unterkunft Ukraine. Verbunden mit einer Forderung, die das Land schon während der Pandemie häufig zu Ohren bekam: "Wir brauchen digitale flexible Lösungen, die das Ganze vereinfachen, statt Stapel von Papier."