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Herausforderung für Neu Delhi

Friedemann Schlender3. März 2002

West-Indien wird von Kämpfen zwischen fanatisierten Hindus und Muslimen erschüttert. Die Regierung in Neu Delhi bemüht sich, die Konflikte zu entschärfen. Doch dies ist schwierig. Ein Kommentar von Friedemann Schlender.

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Nach neun Jahren relativer innenpolitischer Ruhe erlebt Indien erneut schwerste Unruhen. Das Zentrum der Turbulenzen ist Ahmedabad, die größte Stadt des westlichen Bundesstaates Gujarat. Am Mittwoch (27.2.) wurde ein Brandanschlag auf einen Zug verübt, in dem unter anderem Aktivisten des fundamentalistischen Welt-Hindu-Rates saßen. Diesem brutalen Anschlag, für den Muslime verantwortlich gemacht werden, fielen 58 Menschen zum Opfer. Nach einem Aufruf des Welt-Hindu-Rates zu landesweiten Protesten gegen den Brandanschlag setzt eine Welle der Gewalt gegen Muslime ein. Um die Gewaltaktionen in Schach zu halten, musste die Regierung inzwischen Notstandsmaßnahmen ergreifen. Ausgangssperren und massiver Armeeeinsatz sollen nun für die Befriedung sorgen.

Hintergrund des erneuten Ausbruchs von Gewalt ist der Streit um Ayodhya. Vor zehn Jahren hatten fanatische Hindu-Extremisten eine Moschee in diesem Ort des Bundesstaates Uttar Pradesh zerstört, weil sie ihrer Meinung nach auf den Trümmern eines dem Hindu-Gott Ram geweihten Tempels errichtet worden sein soll. Bei dem Abriss der Moschee durch radikale Hindus vor zehn Jahren wurden in den darauffolgenden blutigen Unruhen zwischen Hindus und Muslimen mehr als 3000 Menschen getötet. Am 15. März sollte nach dem Willen der Hindu-Aktivisten mit dem Bau des Hindutempels in Ayodhya begonnen werden. Die neue Gewaltwelle ist eine ernste Bewährungsprobe für die von der Hindu-Partei BJP geführte Mehrparteien-Regierung in Neu Delhi.

In Indien kann man sich noch gut daran erinnern, wie Lal Krishna Advani, heute Innenminister in der BJP-Regierung, vor 12 Jahren mit einer bunten motorisierten Königskutsche, die die vormuslimische Zeit der Hindukönigreiche symbolisierte, durch das Land fuhr, um für den Bau des Hindu-Tempels Stimmung zu machen. Es war eine seltsame Kampagne des Stimmenfangs für die anstehenden Wahlen. Adressat der populistischen Aktion waren die Hindus, die mit 82 Prozent der Bevölkerung den größten Wähleranteil ausmachen. In Erinnerung geblieben ist auch der provokatorische Auftritt Advanis und anderer führender Vertreter der BJP, als im Dezember 1992 die Moschee in Ayodhya von Fanatikern niedergerissen wurde. Als die BJP 1998 schließlich an die Macht gelangte, sah sie sich unter dem Druck ihrer säkularen Koalitionspartner gezwungen, die Frage des Tempelbaus von Ayodhya aus dem politischen Programm der Koalition herauszuhalten.

Entscheidend wird sein, ob jene Kräfte innerhalb der BJP und der ihnen nahestehenden paramilitärischen Vereinigung RSS, der militanten Bajrang Dal und des Welt-Hindu-Rates isoliert werden können, die das Zeitalter des Hinduismus als die einzig wahre indische Periode der Geschichte heroisieren und die historische Einbindung der Muslime in die indische Gesellschaft als eine dem indischen Wesen fremde Entwicklung ablehnen. Der gegenwärtige fragile Zustand der BJP-Regierung scheint aber den Handlungsspielraum der säkularen Kräfte eher einzuengen. Schließlich musste gerade die BJP in den Wahlen zu den Regionalparlamenten in vier Bundesstaaten empfindliche Niederlagen hinnehmen.

Es ist zu hoffen, dass die Täter des brutalen Brandanschlags auf den Zug und der sich jetzt ausbreitenden Welle der Gewalt schnell ermittelt werden. Pauschale Verdächtigungen und Schuldzuweisungen heizen die Emotionen nur weiter auf. Auch angesichts der neuen Ansätze für Verständigung mit Pakistan nach dessen Eintritt in die Anti-Terrorismus-Koalition wäre ein schnelles Ende der Gewalt zwischen den Volksgruppen in Indien von erstrangiger regionalpolitischer Bedeutung. Indien wünschte sich stets ein handlungsfähiges und berechenbares Gegenüber in den Verhandlungen mit Pakistan. Sollte sich aus dieser neuen Welle der Gewalt ein Dauerkonflikt zwischen der muslimischen und der Hindu-Volksgruppe entwickeln, müsste die indische Seite nun ihrerseits die sonst von Islamabad eingeforderte Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen.