Zehntausende Menschen demonstrieren in Seoul gegen die Regierung von Präsident Yoon Suk-yeol. Das sehe ich, als ich gerade aus der südkoreanischen Hauptstadt zurückkehre, in der ich war, um über die Katastrophe von Itaewon zu berichten.
Die Gedenkstätte an der U-Bahn-Haltestelle unweit des Ortes, wo die 156 zumeist jungen Menschen zu Tode gekommen waren, hatte sich in einen Ort des Wehklagens verwandelt: Menschen legten Chrysanthemen nieder, die Blume der Trauer in der koreanischen Kultur. Mönche schlugen Glöckchen und stimmten rituelle Gesänge an, die den Seelen der Getöteten den Weg aus dieser Welt leiten sollten. Die Proteste nun haben einen anderen Charakter. Aus der Trauer ist Wut geworden.
Die Menschen sind wütend, weil bekannt wurde, dass schon Stunden vor der Katastrophe Notrufe bei der Polizei eingingen, die vor dem Unglück warnten. Die Anrufenden klangen von mal zu mal verzweifelter, am Ende schrie einer nur noch ins Telefon, die Polizei möge sich rühren und in Itaewon einschreiten. Nichts geschah. Vom Präsidenten abwärts sprachen danach alle erst einmal von einem "Unfall", um die Verantwortung von sich zu weisen. Gerade für Yoon Suk-yeol ist der Vorfall eine Wasserscheide. Er hatte schon vor der vermeidbaren Massenpanik in Itaewon schlechte Umfragewerte, eingebracht von einer missglückten Schulreform.
Zudem hat er die Kontrolle über die Polizei an sich gezogen, was viele Südkoreaner an die Zeit der Militärdiktatur erinnert. Yoon Suk-yeol hatte seine Residenz aus dem Präsidentenpalast, dem "Blauen Haus", weg verlegt, angeblich wegen schlechten Fengshuis. Nun benötigt er täglich ungezählte Uniformierte, die seine Sicherheit garantieren, da er zwischen Büro und Wohnung pendeln muss. Für die an Halloween erwarteten 100.000 Besucher in Itaewon aber sollen lediglich 58 Polizisten bereitgestellt worden sein.
Itaewon steht für eine weltoffene Jugend
Die Demonstrierenden sehen deshalb im Versagen von Itaewon ein Verbrechen an der jungen Generation. Die Vernachlässigung der Jugend hat schon einmal in der jüngeren Vergangenheit eine hohe Opferzahl gefordert: Im Jahr 2014 kamen rund 300 Schulkinder ums Leben, als eine schlecht gewartete Fähre auf dem Weg zur Insel Jeju versank. Auch damals brauchte es Proteste der Schulkinder und ihrer Eltern, um die Regierung zum Handeln zu bewegen. Am Ende musste das Fährunternehmen Entschädigungen zahlen, der Kapitän wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.
Itaewon steht für die junge, weltoffene Generation: In dem Stadtteil treffen Südkoreaner und Ausländer aufeinander, viele sprechen Englisch. Es gibt Küchen aus allen Teilen der Welt, gegenüber der Unglücksstraße befindet sich zum Beispiel ein Döner-Laden neben dem anderen, es gibt eine große Moschee. Vieles in Itaewon erinnert an Berlin, meine Wahlheimat in Deutschland.
Vor zwei Jahren machte die Netflix-Serie "Itaewon Class" das quirlige Viertel einem weltweiten Publikum bekannt: Ein junger aufstrebender Koch versucht darin, sich mit einem neuen Restaurant gegen den alten Platzhirsch in Itaewon durchzusetzen. Dieser fordert von dem jungen Mann Respekt und Unterwerfung. Jung und alt, Moderne und Tradition, das illustriert die Serie, können nicht gut miteinander. "Itaewon Class" spricht auch die Probleme an, die Menschen anderer Hautfarbe und Angehörige sexueller Minderheiten in Südkorea haben.
Viele junge Südkoreanerinnen und -koreaner fürchten nun - so sagen es einige von ihnen den Journalisten, die nach Itaewon gekommen sind -, dass die Älteren den Grund für die Katastrophe bei den Jugendlichen sehen, die sich zum ungehemmten Partymachen getroffen hätten. Eine solche Sicht wird weder den Opfern noch dem Stadtteil Itaewon gerecht.
Den wütenden Demonstrierenden von Seoul ist zu wünschen, dass ihr heiliger Zorn etwas bewegen und verändern wird. 156 Menschen haben ihr Leben verloren, grundlos und ohne Sinn. Danach kann es kein business as usual geben, zu dem die Alten übergehen wollen. Auch die Bauernopfer - zwei Beamte in der Polizeihierarchie, die nach der Massenpanik entlassen wurden - reichen nicht aus, um das Gleichgewicht der Welt wieder herzustellen, von dem die buddhistischen Mönche in Itaewon glauben, dass es nötig ist, damit die Toten in Frieden aus dieser Welt gehen können.
Alexander Görlach ist Senior Fellow am Carnegie Council for Ethics in International Affairs und Research Associate am Internet Institut der Universität Oxford. Nach Aufenthalten in Taiwan und Hongkong wurde diese Weltregion, besonders der Aufstieg Chinas und was er für die freie Welt bedeutet, zu seinem Kernthema. Er hatte verschiedene Positionen an der Harvard Universität und der Universität von Cambridge inne.