1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Tag der Freude, Tag der Sorge

Arthur Sullivan
18. Juli 2021

Am Montag werden im Großteil des Vereinigten Königreiches die Pandemie-Beschränkungen aufgehoben. Die Wirtschaft wird profitieren, weil wieder normal gearbeitet werden kann. Aber die Unsicherheit bleibt.

https://p.dw.com/p/3wZzy
England, London: Feiern am Tag des Brexits
Bild: Getty Images/AFP/D. Leal-Olivas

Diesen Moment haben Millionen Menschen im Vereinigten Königreich seit sechzehn Monaten herbeigesehnt: die Aufhebung aller Pandemie-Einschränkungen. Der 19. Juli ist der Freedom Day, wie ihn viele Politiker der regierenden Konservativen gerne nennen.

Wissenschaftler sind aber immer noch ernsthaft besorgt. Viele von ihnen sagen, es sei noch zu früh, alle Maßnahmen aufzuheben - angesichts der Geschwindigkeit, mit der sich die Delta-Variante des Virus im Land ausbreitet. Selbst die wissenschaftlichen Berater der Regierung haben vor den ungewissen Konsequenzen gewarnt.

Eher unverbindliche Vorschläge

Bei vielen Geschäftsleuten überwiegt Erleichterung, weil sie jetzt wieder normal arbeiten können. Alle Branchen, darunter auch Nachtclubs, Bars und Theater, werden wieder ohne Einschränkungen arbeiten können.

Die COVID-19-Einschränkungen sind Geschichte, weil Maskenpflicht und Social Distancing nun nicht mehr gesetzlich vorgeschrieben sind, sondern der persönlichen Verantwortung des Einzelnen unterliegen.

Eine der wenigen noch weiterhin geltenden Regeln betrifft jene, die positiv getestet werden oder mit jemandem, auf den das zutrifft, in engem Kontakt stehen: Sie müssen sich selbst isolieren - abhängig vom Alter und dem persönlichen Impfstatus.

Veranstalter großer, in geschlossenen Räumen stattfindender Ereignisse, sind aufgefordert, eine Ausweismöglichkeit zu schaffen, damit Kunden oder Gäste negative Testergebnisse oder Impfnachweise vorlegen können. Allerdings dürfen Geschäftsleute diese Richtlinien auch ignorieren, wenn sie das wollen.

BdTD | Großbritannein London | Denkmal für die Coronaopfer
An dieser Wand in London wird der Menschen gedacht, die in der Pandemie verstorben sindBild: Richard Gray/empics/imago images

Erleichterung gemischt mit Unsicherheit

Die Zuversicht von Geschäftsführern ist allerdings überschattet von der Sorge, was geschieht, wenn die Pandemielage wieder kritisch wird. Der Ruf nach entschiedener Führung durch die Regierung wird laut.

"Auf diese Neuigkeit haben Firmen in ganz England gewartet und vielen wird ein Stein vom Herzen fallen, wenn der Gesundheitsminister endlich das Zeichen gibt, dass die Geschäfte wieder öffnen dürfen", so Claire Walker, Direktorin bei der britischen Handelskammer in einer Pressemitteilung. "Aber sie sind immer noch nicht vollständig informiert - und das müssen sie dringend sein, wenn sie angemessen planen wollen." Der Verband der Kleinunternehmer hat ähnliche Vorbehalte formuliert.

Nach der bislang gezeigten Angriffslust hat sich die Regierung nun Vorsicht auferlegt. Als der Freedom Day im Frühsommer mit großem Trara angekündigt worden war, korrelierte gerade die schnell wachsende Impfrate mit niedrigen Infektionszahlen und sinkenden Todesfällen - das hatte für einen großen Optimismus gesorgt.

Allerdings hat die Ausbreitung der Delta-Variante die Infektionsrate auf mehr als 30.000 täglich in den vergangenen Wochen steigen lassen. Der neue ernannte Gesundheitsminister Sajid Javid räumte, als er die Pläne für den 19. Juli bestätigte, ein, dass die Infektionsrate bald die 100.000er Marke erreichen könnte.

Die Regierung besteht darauf, dass das Impfprogramm die Kausalkette Infektion-Hospitalisierung-Tod durchbrochen habe. Doch die Unsicherheit hat die Regierungsrhetorik deutlich gedämpft, sogar bei Premierminister Boris Johnson.

Der Begriff Freedom Day wird immer seltener benutzt, weil es, obwohl unausgesprochen, so aussieht, dass die Beeinträchtigungen wiederkehren würden, sollte die Lage wieder außer Kontrolle geraten.

Außerdem werden viele Arbeitnehmer, die von zu Hause arbeiten, dies auch noch lange nach dem 19. Juli tun. "Die Regierung wird die Menschen nicht weiter dazu auffordern, wenn möglich zu Hause zu arbeiten, aber wir erwarten und empfehlen, dass die Menschen nach und nach wieder an ihre Arbeitsplätze zurückkehren", so ein Regierungssprecher.

UK Covid-19 AstraZeneca
Mit der Impfrate im Vereinigten Königreich kann man durchaus zufrieden sein - aber wird das auch reichen?Bild: Steve Parsons/empics/picture alliance

Wirtschaftliche Delle

Ökonomen sehen trotz allem auch die gute Seite: Viele von ihnen erwarten, dass die Öffnungen der bereits spürbaren wirtschaftlichen Erholung weiteren Schwung verleihen werden.

"Wir erwarten einen wirtschaftlichen Anstoß aus zwei Richtungen", sagt Andrew Goodwin, Chefökonom von Oxford Economics zur DW. "Zunächst wird die Öffnung von Nachtclubs und anderer großer Events hilfreich sein. Und dann wird der Wegfall der Social Distancing-Regeln viele Geschäfte mit Publikumsverkehr wieder zu einem guten Geschäft verhelfen. Daher erwarten wir in Wachstum vom 7,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes in diesem Jahr."

Aber auch er sieht ein enormes wirtschaftliches Risiko, wenn die Pandemielage wieder eskalieren sollte. "Wir haben im letzten Jahr gesehen, dass eine hohe Zahl von COVID-Fällen die Verbraucher verunsichern und sie davon abhalten, zu Veranstaltungen mit vielen Teilnehmern zu gehen. Und schließlich ist es so, dass, wenn die Fallzahlen steigen, der Druck auf das öffentliche Gesundheitssystem zunehmen wird. Umso wahrscheinlicher wird es, dass dann wieder Einschränkungen eingeführt werden müssen."

Pfund-Noten
Da wird sich auch die Monarchin freuen: Die Wirtschaft Großbritanniens soll in diesem Jahr um 7,3 Prozent wachsenBild: picture-alliance/empics/C. Radburn

Das "Neue Normal"

Der 19.Juli wird die britische Wirtschaft der Normalität wieder so nah bringen wie seit März des vergangenen Jahres nicht. Doch sie wird noch deutlich entfernt sein von dem Niveau, dass sie vor Ausbruch der Pandemie hatte.

Das Virus hat tiefe Wunden geschlagen. Wenigsten 129.000 Menschen sind im Vereinigten Königreich an und mit COVID-19 gestorben. Viele Innenstädte sind immer noch ungewohnt ruhig, wegen der allgemeinen Tendenz, zu Hause zu arbeiten.

Es wird erwartet, dass das Finanzministerium bis ins nächste Jahr hinein fast ein halbe Billion Euro an Corona-Hilfen in die Wirtschaft gepumpt hat. Seit den 1970er Jahren hat die Wirtschaft nicht mehr so unter staatlichem Einfluss gestanden.

Post-Corona und Post-Brexit

Darüber hinaus hat das Vereinigte Königreich seit dem Beginn der Pandemie den gemeinsamen EU-Markt und die Zollunion endgültig verlassen, als am 31. Dezember 2020 die Brexit-Übergangszeit beendet war. Laut Oxford-Ökonom Goodwin beginnen sich die Auswirkungen des Brexit gerade erst zu zeigen und jede denkbare Pandemie-Delle der Wirtschaft wird keinen großen Einfluss auf die Brexit-Folgen haben.

"Wir sehen", so Goodwin, "dass COVID und der Brexit auf verschiedenen Zeitachsen laufen. Der Haupteinfluss der Pandemie wird wahrscheinlich eher kurzfristig sein, aber der Schaden, den das Wirtschaftswachstum durch den Brexit erleidet, wird sich über einen viel längeren Zeitraum hinweg auswirken. Das zeigt sich im sinkenden FDI-Index ausländischer Direktinvestitionen, an der Tendenz, dass Firmen sich eher in der Europäischen Union zusammenschließen als im Vereinigten Königreich und an einem nachlassenden Bevölkerungswachstum, weil immer weniger Menschen auf die Inseln ziehen wollen."

Aktuell aber ist es aber die wiedergewonnene "Souveränität" gegenüber dem Virus, die die Briten erlangt zu haben glauben, und die sie jetzt auch feiern wollen.

Dieser Beitrag wurde aus dem Englischen übersetzt.