Grünen-Chefin Lang: "Das geht tief in die Magengrube!"
30. März 2022Robert Habeck steht in Abu Dhabi, der Hauptstadt der Vereinigten Arabischen Emirate (VAR), auf der Restaurantterrasse des luxuriösen Hotels "Conrad Etihad Towers" und ringt um Fassung. Der Vizekanzler und Wirtschaftsminister von den Grünen ist in die Golf-Region gekommen, um in den Emiraten und in Katar um mehr Gaslieferungen zu bitten. Um russische Lieferungen zu ersetzen, nach dem Angriff auf die Ukraine. Habeck, der Gas noch vor kurzem bestenfalls als Brückentechnologie akzeptieren wollte, bis Deutschland ganz auf erneuerbare Energien setzen kann. Jetzt ist er eine Art staatlicher Türöffner für neue Geschäfte mit den fossilen Energieträgern.
Habeck: "Nicht einfach, das zusammenzukriegen"
Habeck treibt das sichtbar um. Fast 300 Meter hoch erhebt sich der Hotelbau direkt am Strand in den Himmel, die milliardenschweren Emirate zeigen, welchen Wohlstand sie durch Gas und Öl erreicht haben. Unten auf der Terrasse hat Habeck zum Empfang für deutsche Wirtschaftsvertreter am Golf geladen und sagt jetzt: "Das ist nicht einfach, das zusammenzukriegen. Das geht uns allen so, die wir aus Deutschland hierhergekommen sind. Dass man in Gedanken bei den Menschen ist, die gerade sterben, während wir hier reden."
Alles ist anders durch den Krieg
Klima-Neutralität bis 2045, Ausstieg aus der Kohle-Verstromung schon 2030. Eine Wiedergeburt von multilateralen Ansätzen in der Außenpolitik, gar deren feministische Ausrichtung. Eine neue, nachhaltige Landwirtschaft. Das alles wollten die Grünen entschlossen und in hohem Tempo angehen. Jetzt achten sie darauf, dass die Energiepreise für die Deutschen nicht unbezahlbar werden und tragen alle harten Sanktionen des Westens und Europas gegen Russland mit. Sie stimmen der Aufrüstung der Bundeswehr für satte 100 Milliarden Euro zu. Sie befürworten Waffenlieferungen an die Ukraine, lange unvorstellbar für die Partei. Die Grünen, die Umweltschutz- und Friedenspartei, betreibt Krisen- und Kriegsmanagement, wie die gesamte Regierung.
"Keine gute Lösung, aber die am wenigsten schlechte"
Trotzdem hat die neue Parteichefin Ricarda Lang, erst seit Ende Januar im Amt, nicht das Gefühl, dass das die Partei zerreißt: "Das geht schon alles tief in die Magengrube", sagt sie am Montag dieser Woche auf der digitalen Pressekonferenz der Parteispitze auf die Frage der DW: "Aber ich nehme die Basis als sehr verantwortungsbewusst wahr."
Habecks Gas-Einkaufsreise an den Golf nennt sie zwar "keine gute Entscheidung, aber die am wenigsten schlechte". Lang spricht dann davon, dass die Partei ihre Zweifel am neuen Kurs Deutschlands stets offen artikulieren werde, das sei man den Mitgliedern und Wählern schuldig. Insgesamt erfahre sie aber aus allen Landesverbänden große Zustimmung zu diesem Weg.
Nouripour sieht großen Zeitdruck
Omid Nouripour, Ricarda Langs Kollege an der Parteispitze, sieht das ähnlich. Er sagt im Gespräch mit der DW: "Die Zeitenwende zeigt wie unter einem Brennglas all die liegengebliebenen Hausaufgaben der Vorgängerregierung. Man sieht es beim Zustand der Bundeswehr. Man sieht es bei der massiven Abhängigkeit von russischen fossilen Energien. Das sind alles Themen, die wir sowieso angehen wollten und mussten als Partei. Aber jetzt haben wir nicht vier Jahre dafür Zeit, sondern müssen das alles im größten Tempo machen. Das bedeutet, dass es schneller gehen muss und dass es Übergangslösungen geben muss."
Projekt Flüssiggas-Terminal
Wie etwa den vermehrten Ankauf von Flüssiggas. Für solche Lieferungen treibt Habeck gerade den Bau eines Anlande-Terminals für die Tanker in seinem Heimatland Schleswig-Holstein voran. Obwohl die Grünen im hohen Norden einen solchen Neubau in ihrem Programm für die Landtagswahl im Mai noch vor kurzem entschieden abgelehnt hatten. Aber der Krieg hat eben alles verändert.
Erneuerbare Energien sollen massiv ausgebaut werden
Einen Verrat an den eigenen Überzeugungen kann Nouripour darin nicht erkennen. Er listet auf, was an den jetzt beschlossenen Maßnahmen so auch im grünen Programm stehe: "An unseren Grundzielen hat sich nichts geändert. Wir brauchen mehr Effizienz im Beschaffungswesen der Bundeswehr. Wir brauchen mehr europäische Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich. Und vor allem brauchen wir einen massiven Ausbau der erneuerbaren Energien, weil die uns unabhängig machen. Und sie hängen nicht am Energiemangel und an Spekulationen an den Märkten, sondern sie bleiben bezahlbar." Aber kurzfristig, das wissen auch die Grünen, könnten steigende Gasimporte eben auch zu mehr klima-schädlichen Emissionen führen. Und ob der Kohleausstieg wie geplant "idealerweise" bis 2030 gelingt, ist momentan wie so vieles andere offen, war aber ebenfalls eines der zentralen Forderungen der Grünen.
Zahlt sich Pragmatismus aus?
Habeck macht während der Reise an den Golf trotzdem diese Rechnung auf: Er sagt, die Grünen seien überall dort langfristig erfolgreich, wo sie sich pragmatisch um die realen Probleme kümmerten und weniger an den eigenen Grundsätzen hingen. In Baden-Württemberg etwa, wo die Grünen mit Winfried Kretschmann den Ministerpräsidenten stellen. Beim Wahlvolk kommt das sicher gut an, für viele Mitglieder bleibt ein solcher Pragmatismus aber eine Zumutung.
Dzienus: "Aufrüstung kein Beitrag zum Kriegsende"
Besonders die Aufrüstung der Bundeswehr, von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Sonntag nach dem russischen Angriff im Bundestag verkündet, empört vor allem viele jungen Grüne, von denen viele auch im Bundestag sitzen. Der Bundessprecher des grünen Nachwuchses, Timon Dzienus, sagte danach dem Fernsehsender NTV, er sei irritiert über den Plan des Kanzlers: "Mit diesem Vorschlag leistet er überhaupt keinen Beitrag zur Beendigung des russischen Angriffskrieges."
Ob es bei diesem Grummeln an der Basis bleibt, wird sich in den nächsten Monaten zeigen. Noch ist aber auch bei den Grünen der Schock über den Krieg in Europa so stark, dass der Kurs der Regierung weitgehend mitgetragen wird.