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Politik

Wie Lenin dem Coronavirus zum Opfer fiel

Daria Bryantseva | Christian F. Trippe
22. April 2020

Denken Sie nicht schlecht über uns, dieser Text ist kein Clickbaiting! Revolutionsführer Lenin leidet unter der Pandemie, wirklich! Denn wegen Corona steht zum 150. Geburtstag kein Lenin-Denkmal in Gelsenkirchen.

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Deutschland Gelsenkirchen | Entscheidung gegen Baustopp für Lenin-Statue
Zum Geburtstag in einem Gelsenkirchener Keller: Wladimir Iljitsch LeninBild: picture-alliance/dpa/M. Kusch

Die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) hat geschafft, was selbst in Russland, dem Rechtsnachfolger der Sowjetunion, undenkbar scheint: In Gelsenkirchen wird demnächst eine Lenin-Statue aufgestellt. In der vor 30 Jahren untergegangenen DDR gab es tonnenweise große und kleine Abbilder des Arbeiterführers, aus Bronze und Marmor - aber in der kapitalistischen Bundesrepublik? Im Westen Deutschland wurde Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, als Denkmal bisher jedenfalls noch nie gesichtet.

Das Unglaubliche sollte bereits Mitte März geschehen, anlässlich seines 150. Geburtstages, der sich genau heute, am 22. April jährt. Zur Vorfeier des obersten aller Bolschewiken hätten Iljitsch-Freunde von überall her in den tiefen Westen Deutschlands ziehen können, mit roten Fahnen und Transparenten. Ganz im Geiste des Kommunismus, der einmal um die Welt gereist ist.

Auch Marx hat sein Denkmal im Westen

Dessen Vordenker, Karl Marx wurde in Trier geboren - das liegt gut 250 Kilometer von Gelsenkirchen entfernt. In Trier wurde erst vor zwei Jahren ein bronzener Karl Marx aufgestellt. Die Volksrepublik China hatte ihn zum 200. Geburtstag gestiftet, um den Autor des "Kommunistischen Manifests" zu ehren. Damals seufzten die Bürger von Trier, dass es wohl eine grobe Unhöflichkeit wäre, ein solches Geschenk abzulehnen. Und sie ließen den Marx widerwillig geschehen. 

Daria Bryantseva
Daria Bryantseva leitet die Kulturredaktion des Russischen ProgrammsBild: DW

Und was hat nun Lenin mit Gelsenkirchen zu tun? In dieser mittelgroßen deutschen Industriestadt befindet sich das Hauptquartier der MLPD. Auch die Stadt Gelsenkirchen widersetzte sich zunächst dem zwei Meter hohen Iljitsch auf ihrem Territorium. Denn das Denkmal würde den Blick auf denkmalgeschützte Gebäude stören, außerdem sei Lenin beileibe keine historische Lichtgestalt. Ein Gericht entschied sich jedoch für Iljitsch - die MLPD darf die Statue aufstellen.

Die Deutschen und Lenin haben eine komplizierte Geschichte: 1917 wurde Lenin aus der Schweiz in einem versiegelten Eisenbahnwagen quer durch Deutschland gefahren, auf Geheiß der Reichsregierung. Lenin sollte in Russland eine Revolution entfachen, was er ja auch tat, und zwar nachhaltig. Jetzt, 103 Jahre später ist Iljitsch wieder eingesperrt - diesmal in einem Keller in Gelsenkirchen, wo er auf seinen Moment wartet. Doch das Fanal, das die MLPD von Lenins Freisetzung erwartet, muss noch warten. 

Die MLPD - nur ein paar versprengte Abgeordnete

Christian Trippe Leiter Hauptabteilung Osteuropa
Christian F. Trippe ist Leiter der Osteuropa-ProgrammeBild: DW

Auf das politische Leben in Deutschland hat die Kleinstpartei MLPD nämlich keinen Einfluss; bei der jüngsten Bundestagswahl erzielte sie lediglich 0,1 Prozent der abgegebenen Stimmen. Nur in einigen Stadträten sitzen ein paar versprengte MLPD-Abgeordnete, doch die Partei verfügt über erstaunlich viel Geld - vermutlich aus Spenden. Und sie wird vom Verfassungsschutz beobachtet, da ihr Programm - nun ja - leninistisch ist und maoistisch auch und somit als extremistisch gilt.

Bei der Bundestagswahl 2017 machten ganze 35.760 Deutsche ihr Kreuz bei der MLPD, die den Namen desjenigen trägt, den Lion Feuchtwanger einmal den "Jesus Christus der russischen Revolution" genannt hat. Feuchtwanger, der deutsche Dichter und zeitweise Stalin-Freund, der 1936 das Mausoleum auf dem Roten Platz mit der dauertiefgekühlten Lenin-Hülle besucht hatte. Doch Jesus fuhr bekanntlich in den Himmel auf, was Lenin augenscheinlich verwehrt blieb.

Ist Lenin überhaupt tot?

Ein ungeschriebenes Gesetz in Deutschland besagt, dass nur Toten Denkmäler gesetzt werden dürfen. Was die Frage aufwirft: Ist Lenin überhaupt tot, wenn er partout nicht beerdigt wird? Wie lebendig ist seine mörderische politische Philosophie, die nur Optimisten für tot hielten, als sein Staat, die Sowjetunion, zerfiel? Wer darauf Antworten sucht, der muss demnächst wohl nach Gelsenkirchen fahren.

Denn wenn sich das Virus ausgetobt hat und das Reisen wieder möglich ist, schlägt die Stunde der Leninisten. Bis dahin darf der russische Revolutionsführer getrost als Corona-Opfer gelten. Das Virus stammt ja aus China - aus jener aufstrebenden Macht, deren Geschenke man nicht ablehnen kann, und die sich auf Marx und Mao auch auf ihn, auf Lenin beruft. Also müssen sich in Zukunft Polit-Touristen aller Länder fragen: Trier oder Gelsenkirchen? Egal - Hauptsache Bronze!