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Gewinner und Verlierer in Afghanistan

Sandra Petersmann19. Dezember 2003

2001 wurde auf dem Bonner Petersberg über die Zukunft Afghanistans beraten. Heute, zwei Jahre später, scheint das Land auf einem guten Weg zu sein. Doch was hat sich am Leben der Menschen geändert ?

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Karg und hart: Leben in AfghanistanBild: AP

Kisil Kucha ist ein Dorf wie viele im ländlichen Afghanistan. Es liegt im kargen Nordosten des Landes und schmiegt sich sanft in eine kleine Talsohle zwischen zwei steilen Berghängen. Die 200 Familien von Kisil Kucha bleiben unter sich, fast alle leben von Ackerbau und Viehzucht. Der Ritt in die benachbarte Kleinstadt Hazarbargh dauert mit dem Esel eine Stunde. Gul Nisar hat in Kisil Kucha ein kleines Lehmhaus und ein Stückchen Land. Sie ist 36 Jahre alt und muss sieben Kinder durchbringen. Gul Nisar hat vor einem Jahr ihren Mann verloren. Er kam bei einem Arbeitsunfall ums Leben. Nisar ist der Verzweiflung nahe: "Ich habe schon alle Sachen aus meinem Haushalt auf dem Basar verkauft, um an Geld zu kommen. Ich habe ja nur mich selber, um mir zu helfen", erzählt sie. "Ich habe Angst. Ich möchte meine Kinder in die Schule schicken, aber wie soll ich für sie sorgen? Es gibt nirgendwo Hilfe. Wo ist die Regierung? Mein Leben geht nach unten, ich kann nicht mehr."

Witwenschicksal in Afghanistan

So wie Gul Nisar leben viele tausend Frauen in Afghanistan, die ihre Männer verloren haben. Sie sind finanziell nur so lange abgesichert, solange ihre Ehemänner da sind. Und wenn im Todesfall die Familie nicht einspringt, sitzen sie in der Armutsfalle. So wie Bibi Fatima. Die 80-jährige Greisin geht auf den Straßen von Kabul betteln, obwohl sie kaum noch laufen kann. Ihren Mann und ihre vier Söhne hat sie im Krieg verloren. "Ich schäme mich so. Ich wäre lieber tot", sagt sie über ihr Bettlerdasein. Die zahnlose Bibi Fatima bettelt oft vor Kabuls neuester Attraktion. Dann hockt sie vor dem Roshan-Center unter ihrer Burqa und hält still die Hand auf.

Sicherheit gut fürs Geschäft

Das Roshan-Center ist ein modernes Kaufhaus mit fünf Etagen und Vollglasfront im neuen Wirtschaftsviertel der Stadt. "Bei uns kriegen sie alles, von Bekleidung über Elektronik bis hin zu Möbeln", erzählt der Besitzer Haji Gholam Hossein Roshan stolz. Im Schaufenster hängt ein schwarzer Damenmantel mit Pelzkragen für 150 US-Dollar. "Wir richten unser Angebot nach unseren Kunden. Wir haben etwas für weniger Reiche und wir haben etwas für die Reichen", erklärt er. "Die Wirtschaft ist angelaufen und Kabul ist sicher geworden. Das ist gut fürs Geschäft." Geschäftsmann Roshan ist nach dem Sturz von König Zahir Schah aus Afghanistan geflohen und hat 25 Jahre im britischen Exil gelebt. Seine vier Söhne hat er zum Studium in die USA geschickt. Jetzt ist die Familie zurückgekommen. "Ich habe Hoffnung. Ich glaube an die Zukunft meines Landes. Ich glaube, dass es allen besser gehen kann", erklärt er.

Zuflucht in Kabul

Auch Abdel Majid ist vor ein paar Monaten voller Hoffnung zurückgekommen. Er war 18 Jahre lang auf der Flucht, erst im Iran, dann in Pakistan. Jetzt lebt er mit seiner Frau und drei kleinen Töchtern in einem Zelt am westlichen Stadtrand von Kabul. Genauso wie 700 andere Familien. Die Menschen haben ihrer wilden Siedlung am Berg den Namen Waizalabad gegeben. Für Abdel Majid ist Kabul nur eine Durchgangsstation. Er arbeitet als Tagelöhner und will zurück auf seine Scholle in der kleinen Provinz Kapisa im Norden. "In Kapisa entscheiden die lokalen Kommandanten, was passiert. Sie haben viele Männer unter Waffen. Sie rauben und sie stehlen, dort kann man kein Haus bauen." Also hat er sich vorerst für Kabul entschieden. Doch sobald es in Kapisa auch sicher ist, will er zurückkehren in sein Dorf.

Jahre oder Jahrzehnte ?

Wie die Geschichten von Gul Nisar, Bibi Fatima, Haji Gholam Hossein Roshan und Abdel Majid weitergehen, wird nicht nur durch eine neue Verfassung und freie Wahlen entschieden. Denn ob der brüchige Frieden hält, ob die lokalen Machthaber entwaffnet werden, und ob Sicherheit und Wohlstand jenseits von Kabul spürbar werden, hängt vor allem vom politischen Willen der Geberländer ab, sich dauerhaft in Afghanistan zu engagieren. Nach einem viertel Jahrhundert Krieg rechnen die Vereinten Nationen nicht in Jahren, sondern in Jahrzehnten.