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Glaube

Gelebte Demokratie in einer undemokratischen Kirche?

3. September 2021

Jugendliche engagieren sich in der katholischen Kirche, trotz aller Skandale. Das liegt jedoch weniger an einer Renaissance des Glaubens als vielmehr an der lebendigen politischen Praxis der katholischen Jugendverbände.

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BDKJ, Bund der katholischen Jugend
Bild: Christian Schnaubelt/BDKJ

Was haben der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, die ZDF-Journalistin Nicole Diekmann und der TV-Entertainer Harald Schmidt gemeinsam? Richtig, sie alle waren in ihrer Jugend Mitglied in einem katholischen Jugendverband. Und auch Bundesaußenminister Heiko Maas bekannte sich in einem Podcast zu seiner Sozialisation in der katholischen Jugendarbeit – sie habe ihn „politisiert“. Von der Katholischen Landjugendbewegung über die Christliche Arbeiter*innenjugend und die Pfadfinder*innenverbände, die Schützenjugend und die Katholische junge Gemeinde: rund 660.000 junge Menschen sind derzeit in einem der Jugendverbände im Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) engagiert, sei es in der Pfarreiarbeit vor Ort, im Rahmen von Ferienfreizeiten, Gruppenstunden oder in Jugendleiterrunden. Sie organisieren Fairtrade-Cafés, Taizé-Nächte und mischen auch kommunal- und regionalpolitisch in den Jugendringen mit, in denen auch nicht-katholische Verbände Mitglied sind. Und obwohl schon seit Jahrzehnten aus konservativen Kreisen der Vorwurf ertönt, die katholischen Jugendverbände seien nicht „katholisch genug“ und aus kirchenfernen Milieus teilweise äußerst misstrauisch auf das „K“ in den Verbandsnamen geschielt wird, so bilden die Jugendverbände eine stabile Konstante in der Debatte um eine Demokratisierung der katholischen Kirche und sind aktive Zeug*innen für eine lebendige Nachfolge Christi in der Welt von heute.

Für Frieden, Zukunft und Arbeit

Als der BDKJ im Jahr 1947 gegründet wurde, herrschte zwar in der Kirche und in der Jugend Aufbruchstimmung nach der NS-Diktatur, jedoch zeigte sich auch hier schon, dass den Bischöfen das innerkirchliche Widerstandspotenzial der seit 1938 als eigenständige Organisationen verbotenen Jugendverbände sehr bewusst war. Ihr Anliegen war es, einen Zusammenschluss von unpolitischen Pfarrjugenden auf Diözesanebene zu erwirken, doch die bereits zu Zeiten der Weimarer Republik sehr aktiven und nun nach dem Krieg wieder erstarkenden Jugendverbände setzten sich letztlich mit der Gründung des BDKJ um Pfarrer Ludwig Wolker als Bundespräses der Mannesjugend durch. Bereits auf der Gründungsversammlung 1947 wurden erste politische Stellungnahmen zur Situation junger Menschen in der Nachkriegszeit verabschiedet, es kamen in den darauffolgenden Jahren Reflexionen zu verschiedenen geschlechter- und friedenspolitischen Fragen hinzu. Auch der Schulterschluss mancher katholischer Jugendverbände mit der Friedensbewegung oder der Anti-Atomkraft-Bewegung in den 1980er Jahren zeitigt bis heute Effekte, zum Beispiel im Engagement für Klimagerechtigkeit als Bewahrung der Schöpfung oder den zahlreichen internationalen Partnerschaften mit Ländern des globalen Südens. Besonders viel Anerkennung außerhalb der Kirche erhielt der BDKJ für seinen 2007 gestarteten Coca-Cola-Boykott als Zeichen für kritischen Konsum, zur Unterstützung von Arbeitnehmer*innenrechten und gegen Menschenrechtsverletzungen im Umfeld des globalen Konzerns.

Politisches Engagement als gelebte Glaubenspraxis

Strukturell wirken die katholischen Jugendverbände im Vergleich zur Amtskirche wie ein Raumschiff aus einer fernen Galaxie: Die meisten Leitungsämter sind geschlechterparitätisch besetzt, es zählt das Subsidiaritätsprinzip, das aktive Wahlrecht kennt keine Altersgrenzen, geschlechtergerechte Sprache ist eine Selbstverständlichkeit und die Professionalität des Versammlungswesens stellt so manche Parteitagsdebatte in den Schatten. Auch inhaltlich positionieren sich die Jugendverbände auf der Basis ihres Glaubens und in Referenz auf die katholische Soziallehre an der Seite benachteiligter Menschen, zum Beispiel im Kampf gegen Waffen-Exporte, gegen Rassismus, Sexismus und Extremismus und im Engagement für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Gleichsam sind sie fester Bestandteil von Kirchengemeinden und bringen dort ihre Themen und Kompetenzen ein, zum Beispiel in Pfarrgemeinderäten oder bei Hochfesten und Veranstaltungen im Kirchenjahr. Allein im Rahmen der 72-Stunden-Aktion setzen 160.000 Jugendliche in drei Tagen in ihren Gemeinden Sozialprojekte um und packen ganz praktisch an, sei es bei Spielplatzrenovierungen, bei der Pflege von Pfarrgärten oder Smartphone-Kursen für Senior*innen. Wo katholische Jugendverbände sind, da ist es bunt und manchmal auch laut, aber immer im Sinne gelebter Glaubenspraxis in allen Facetten junger Lebensrealitäten.

Engagement wegen oder trotz Kirche?

Nun steckt die katholische Kirche unbestreitbar in einer Krise, die sie sich einzig und allein selbst zuzuschreiben hat: die massenhafte und institutionalisierte Duldung und Vertuschung von sexualisierter Gewalt und geistlichem Missbrauch, die überkommene Sexualmoral, die Ungleichbehandlung der Geschlechter, das unzeitgemäße katholische Dienstrecht und Finanzskandale in den Bistümern sorgen für reihenweise Kirchenaustritte. Doch: Die Zahl der Mitglieder in den katholischen Jugendverbänden insgesamt bleibt weitestgehend konstant und trotzt auch demografischen Schwankungen. Neben einer zeitgemäßen Spiritualität und der lebensweltorientierten Theologie der Verbände, in der junge Menschen ihre eigene Beziehung zu G*tt entdecken können, sind dafür mit großer Sicherheit auch die demokratischen Werte verantwortlich, die die katholischen Jugendverbände auszeichnen: echte Mitbestimmung, Gleichberechtigung, eine gute Debattenkultur und der feste Wille, in Kirche und Gesellschaft aktiv mitzugestalten. Perspektivisch werden jedoch auch sie die Auswirkungen der Krise spüren, nämlich dann, wenn die Amtskirche sich nicht mutiger, nachdrücklicher, glaubhafter und auch schneller an den von vielen Gläubigen geforderten Reformen beteiligt. Denn junge Menschen haben ein feines Gespür dafür, wer ihnen authentische Teilhabeperspektiven nur vorgaukelt, am Ende jedoch wieder auf Dogmen und Regeln verweist, die sich nicht mit dem zusammenbringen lässt, was katholische Jugendverbandsarbeit schon längst lebt und atmet: Solidarität, Zusammenhalt, Gleichberechtigung und ein unverrückbares Bekenntnis zur Demokratie als Gesellschaftsform.

 

Zur Autorin: Dr. Anna Grebe wurde seit ihrem 9. Lebensjahr in der katholischen Jugendverbandsarbeit sozialisiert. Sie stammt aus einer kleinen Diaspora-Gemeinde in Süddeutschland und lebt und arbeitet inzwischen in Berlin, wo sie u.a. Mitglied im Diözesanrat ist. Sie ist überdies Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholik*innen (ZdK) und in der Filmkommission der Deutschen Bischofskonferenz.