Berlinale: Doku über Aufstieg und Fall von Boris Becker
19. Februar 2023Um einen journalistischen Text in der Ich-Form zu beginnen, braucht es einen guten Grund. Boris Becker ist so ein Grund: Es gibt kaum jemanden, der keine persönlichen Erinnerungen mit ihm verbindet. Die Dokumentation "Boom! Boom! The World vs. Boris Becker", die am Sonntag auf der 73. Berlinale ihre Weltpremiere feierte, widmet sich dem Menschen hinter der öffentlichen Person, den viele wie selbstverständlich für sich vereinnahmt haben.
Als Boris Becker zum ersten Mal das Tennisturnier auf dem heiligen Rasen von Wimbledon gewann, war ich sechs Jahre alt und noch zwei Monate von meiner Einschulung entfernt. Die Erinnerungen sind etwas verschwommen und wahrscheinlich überhaupt nur vorhanden, weil bei uns Zuhause sonst nie tagsüber der Fernseher lief, schon gar nicht im Hochsommer. Niemand in meiner Familie oder im Freundeskreis spielte Tennis, aber es war eine Selbstverständlichkeit, dabei zu sein, als dieser Teenager in Londons Südwesten binnen Wochen zum Weltstar wurde. Ein Held mit 17, enorme Fallhöhe inbegriffen.
Dokumentarfilmer Alex Gibney räumt jenem Sommer viel Platz ein. "So etwas hat es nie zuvor gegeben", sagt Becker im Film. Am 7. Juli 1985 wurde er zum bis heute jüngsten Wimbledon-Sieger, alle Welt kannte fortan die Becker-Faust, den Becker-Hecht, sein Pusten auf die Fingerkuppen, bevor der Gegner aufschlug. Sein physisches und schnelles Spiel, die harten Aufschläge und Returns brachten ihm im britischen Boulevard den Spitznamen "Boom Boom" ein, deutsche Medien übernahmen ihn. Becker gefiel er nie.
Nach einer Durststrecke ohne Turniersiege verteidigte er 1986 sensationell seinen Titel in Wimbledon. Im Autokorso durch seine Heimatstadt Leimen fuhr er anschließend nur noch widerwillig. Entzieht sich ein Idol der Zuneigung der Masse, wird sie schnell skeptisch. "Gerade in Deutschland wird es oft nicht zugelassen, dass der jüngste Wimbledon-Sieger aller Zeiten erwachsener geworden ist", sagte Becker vor der Filmpremiere auf der Berlinale.
"Boom! Boom! The World vs. Boris Becker", in Auftrag gegeben vom Streaming-Anbieter AppleTV, besteht aus zwei Teilen. Auf der Berlinale ist nur der erste zu sehen, überschrieben mit: "Triumph". Er ist im wesentlichen ein Zusammenschnitt der großen Duelle gegen Ivan Lendl, Stefan Edberg oder John McEnroe, launig inszeniert wie Western, unterlegt mit Musik von Ennio Morricone. Dazu teilen ehemalige Weggefährten und Gegner ihre Erinnerungen.
Der ganze tiefe Fall wird hier nur angedeutet. Regisseur Gibney traf Becker 2019 zum ersten ausführlichen Interview, das zweite Gespräch folgte 2022 - zwei Tage vor dessen Inhaftierung. "Ich habe meinen Tiefpunkt erreicht", sagt Becker mit rot unterlaufenen Augen in die Kamera.
Becker wurde im April 2022 vor einem Londoner Gericht zu einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt. Er soll in einem 2017 eröffneten Insolvenzverfahren Vermögenswerte verschwiegen haben. Unter der Auflage, das Land zu verlassen, wurde er bereits nach rund acht Monaten aus der Haft entlassen. Becker kehrte zurück nach Deutschland. Warum er verurteilt wurde, sei ihm noch nicht klar, sagt er im Film.
Bei Misserfolg wird es hässlich
Nach dem Wimbledon-Triumph will Ion Tiriac, Beckers damals legendärer Manager, seinem Schützling erklären, was nun auf ihn zukommt, was die Welt von ihm erwarten würde. Eine britische Zeitung schreibt, Michael Jackson und Madonna sollten Platz machen für diesen Jungen. Becker sitzt bei Johnny Carson, dem Gott des US-Late-Night-Formats. Wie es denn seit dem Triumph mit den Frauen laufen würde, fragt der Gastgeber.
Die Welt interessiert sich nicht mehr nur für den Sportler, sondern auch für dessen Privatleben. Bei Misserfolg wird es hässlich. Der britische Boulevard mutmaßt nach Niederlagen, Becker habe vermutlich zu viel Sex. Öffentliche Aufmerksamkeit, Sponsorentermine, Turniere, Jetlag: Becker entwickelt eine Schlaftablettensucht, über die er im Film offen spricht. Die Leistungen auf dem Platz leiden: "Die Deutschen kreuzigen mich, wenn ich nicht gewinne", sagte Becker auf der Berlinale zur damaligen Erwartungshaltung.
In einer Szene der Dokumentation kehrt der frühere Tennisspieler zurück an den Ort seiner größten Erfolge, sein Wohnzimmer, wie er Wimbledon nennt. Über dem Ausgang zum Center Court steht ein Vers des britischen Dichters Rudyard Kipling: "Wenn du mit Sieg und Niederlage umgehen kannst und diese beiden Betrüger ebenbürtig behandelst". Den Ausgang des Gedichts spart der Schriftzug aus: "Gehört dir die Erde und alles, was auf ihr ist".
Im Tennis kommt es auf Kraft an oder auf Präzision, manchmal entscheidet beides gemeinsam in einem einzigen Schlag über Sieg oder Niederlage. Die Präzision, die Boris Becker früher brauchte, um Bälle millimetergenau auf die Grundlinie seiner Gegner zu dreschen, ist ihm außerhalb des Platzes abhanden gekommen.
Seine privaten Niederlagen spart der erste Teil weitgehend aus: Affären, eine in einer Besenkammer gezeugte Tochter, seine Scheidung samt drohendem Rosenkrieg, öffentliche Schlammschlachten nach gescheiterten Beziehungen. 2002 steht er wegen Steuerhinterziehung in Deutschland vor Gericht, Becker kommt mit einer Bewährungsstrafe davon. Bei Geschäften verliert er Millionen, weil er zu gutgläubig ist. Im späteren Insolvenzverfahren werden sogar seine Trophäen versteigert.
Keine Kenntnis der eigenen Finanzen
Ion Tiriac erklärt, ein Tennisspieler erziele rund 10 bis 15 Prozent seiner Einnahmen aus Turnieren. Wenn es stimmt, dass Becker in seiner Karriere allein über Preisgelder rund 25 Millionen Dollar erspielt hat, lässt sich erahnen, was ihm Werbeverträge mit Konzernen wie Coca-Cola eingebracht haben dürften. Umso unbegreiflicher: Wie konnte er so ein Vermögen durchbringen?
Becker sagt in der Doku, er habe in seiner aktiven Zeit als Spieler nicht gewusst, wie viel Geld auf seinem Konto lag. Es bestand ja kein Zweifel daran, dass es mehr als genug war. Nach dem Karriereende habe er von Finanzen keine Ahnung gehabt und seinen Lebensstil trotz geringerer Einnahmen unverändert fortgesetzt.
"Ich bin der Letzte, der sich über sein Leben beschweren würde", sagte Becker auf der Berlinale. Er habe Fehler gemacht, wie jeder andere Mensch auch. "Der Unterschied ist in meinem Fall: Die Welt erfährt davon." Seit mehr als 30 Jahren müsse er mit Missverständnissen leben. Vor Gericht ergeht ein Urteil im Namen des Volkes. Der Filmtitel geht einen Schritt weiter und suggeriert, die ganze Welt stehe geschlossen gegen Becker - mindestens in ihrer vorschnellen Meinungsbildung.
An seinem Image ist Becker nicht unschuldig. Er hat in den vergangenen fast 40 Jahren einige Fremdscham-Momente produziert, sich verhaspelt, leichtfertig und naiv private Details preisgegeben. Es ist leicht, sich über das gefallene Idol lustig zu machen, und viele haben davon ungehemmt Gebrauch gemacht. "Wenn du ein bestimmtes Level erreicht hast, wollen sie dich fertig machen", sagt der frühere schwedische Weltklasse-Spieler Björn Borg in der Doku.
Auf Boris Beckers Verehrung folgt Verdammung
Mit dieser Diskrepanz können die Filmemacher dramaturgisch hervorragend arbeiten. Oscar-Preisträger Gibney ("Taxi zur Hölle", 2008) und der Produzent John Battsek ("Searching for Sugar Man") sind auf Dokus spezialisiert, die sich um eine Hauptfigur bewegen: Auf Erfolg, Heldentum und Verehrung folgen Verfehlungen und Verdammung, bis hinter dem Idol tatsächlich doch ein (fast) ganz normaler Mensch erkennbar wird, dem Vergebung und Auferstehung zuteil werden.
In Berlin nach seiner eigenen Erwartungshaltung an den Film gefragt, antwortete Becker: "Ich hoffe, dass alle die Gelegenheit haben, eine andere Seite von diesem berühmten Kerl zu sehen, der hier sitzt."